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Die Schwingen des Todes

Die Schwingen des Todes

Titel: Die Schwingen des Todes
Autoren: Faye Kellerman
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    Der fassungslose Ausdruck in Rinas blassem Gesicht sprach Bände. Decker dachte sofort an seine Eltern. Beide waren mit Mitte achtzig schon recht betagt, und obwohl sie noch ziemlich rüstig wirkten, hatten sie in den vergangenen Jahren doch ein paar gesundheitliche Probleme gehabt. Aber Rina besaß genügend Geistesgegenwart, ihm sofort zu versichern, dass mit der Familie alles in Ordnung sei.
    Decker hielt seine kleine Tochter an der Hand. Während er auf das Mädchen hinabblickte, sagte er: »Hannah Rosie, wir holen dir jetzt ein paar Videos und machen dir was zu essen. Ich glaube, Eema möchte mit mir etwas Wichtiges besprechen.«
    »Ist schon okay, Daddy. Das schaff ich auch allein. Eema hat mir gezeigt, wie die Mikrowelle funktioniert.«
    »Gerade mal neun Jahre alt und schon reif fürs College.«
    »Nein, Daddy, aber mit dem Videorekorder und der Mikrowelle kenn ich mich aus.« Hannah wandte sich an ihre Mutter. »Ich hab eine Eins im Diktat. Und ich hab noch nicht mal geübt.«
    »Das ist ja wunderbar. Ich meine nicht, dass du nicht geübt hast, sondern dass du eine Eins hast.« Rina gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. »Geh schon mal in die Küche. Ich komm gleich nach.«
    »Okay...« Hannah zog ihren Trolley-Rucksack hinter sich durch die Küchentür.
    »Du solltest dich setzen«, sagte Decker zu seiner Frau. »Du siehst ganz blass aus.«
    »Ach, mir geht's gut.« Trotzdem ließ Rina sich auf die Couch sinken, nahm eines der blauweiß karierten Sofakissen und umklammerte es wie einen Rettungsring. Sie betrachtete mit i hren leuchtend blauen Augen unruhig das Wohnzimmer, die Lampe über Deckers Ledersessel und schließlich den weißen Weidenschaukelstuhl, nur seinem Blick wich sie aus.
    »Meinen Eltern geht es also gut?«, fragte er schließlich gezielt.
    »Ja, wunderbar«, bestätigte Rina. »Jonathan hat angerufen.« »Oh, Gott! Seine Mutter?« »Nein, alles in Ordnung.«
    Frieda Levine war Jonathans Mutter und gleichzeitig Deckers biologische Mutter, was Jon zu seinem Halbbruder machte. Vor etwa zehn Jahren hatte Decker eher zufällig als geplant seine Familie mütterlicherseits kennen gelernt, zu der auch fünf Halbgeschwister gehörten. Im Lauf der Zeit waren allmählich so etwas wie Familienbande entstanden: eine stärkere Bindung als zwischen bloßen Bekannten, aber noch nicht so belastbar wie erprobte Verwandtschaftsbeziehungen. Nach wie vor betrachtete Decker nur die beiden Menschen als seine richtigen Eltern, die ihn als kleines Kind adoptiert hatten. »Was ist denn nun passiert?«
    In diesem Moment hörten beide das Klingeln der Mikrowelle. Eine Sekunde später kam Hannah, einen Teller mit einem Stück Pizza, ein großes Glas Milch und ihren Rucksack balancierend, aus der Küche. »Warte, ich helf dir«, sagte Decker.
    Wortlos reichte sie ihrem Vater das Essen und die Schultasche und hüpfte mit wehenden roten Ringellöckchen den Flur hinunter zu ihrem Zimmer. Decker folgte ihr mit ein paar Schritten Abstand. Rina ging in die Küche und setzte Wasser für eine Kanne Kaffee auf. Nervös nahm sie ihre Kopfbedeckung ab, löste die Haarspange und schüttelte ihre schulterlangen, glänzenden schwarzen Haare aus. Dann band sie sie wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. Unruhig knabberte sie an der Kuppe ihres Daumens herum, was den Zustand des eingerissenen Nagels nur noch verschlimmerte.
    Als Decker in die Küche zurückkam, setzte er sich an den großen Esstisch aus Kirschbaumholz, der ein wenig mitgenommen aussah, aber immer noch brauchbar war. Damals beim Bau des Tischs hatte er das beste Holz verwendet, das er auftreiben konnte - und das hatte sich ausgezahlt. Er zog sein blaues Sakko aus und hängte es über die Rückenlehne seines Stuhls. Dann löste er die Krawatte und fuhr sich mit der Hand durch das rostbraune, von zahlreichen weißen Strähnen durchzogene Haar. »Was ist denn nun mit den Levines?«
    »Nein, nicht mit den Levines, Peter. Es geht um Jonathans andere Verwandte, die Liebers. Raisies Familie. Es ist etwas Schreckliches passiert: Sein Schwager Ephraim wurde tot aufgefunden.«
    »O mein Gott!«
    »Ermordet, Peter. Man hat ihn in irgendeinem schäbigen Hotelzimmer im Norden Manhattans gefunden. Und was das Ganze noch verwirrender macht: Er war in Begleitung seiner fünfzehnjährigen Nichte - der Tochter seines Bruders -, und sie ist seitdem verschwunden. Die Familie ist verzweifelt.«
    »Wann ist das alles passiert?«
    »Jonathan hat etwa, fünf Minuten bevor du nach
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