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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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mich herunter. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt. Was wollten sie alle von mir? Warum bedrängte mich jetzt auch Dorit?
    Sie weiß doch, dass ich schon seit Jahren ungern das Haus verlasse, ich bin ein unbeweglicher Mensch. Gebt mir einen Computer, eine Tastatur und Geschichten, und überhaupt, was ist schlecht daran, ins Kino zu gehen, fragte ich mich. Aber zu Dorit sagte ich, dass ich bestimmt, ganz bestimmt einmal kommen würde. Ich wusste, dass ich es nicht tun würde.
    Dorit bemerkte mein Zögern, sie kannte mich, zum ersten Mal beschrieb sie mir die Landschaft des Emek, den Whirlpool zwischen den Oliven- und Pistazienbäumen.
    »Sag«, unterbrach ich sie, »was ist schlecht daran, dass wiruns mit Julia Roberts treffen, mit George Clooney, Brad Pitt und Uma Thurman?« Ich wollte unsere Routine beibehalten. »Ab jetzt haben wir vier Gedenktage, viermal im Jahr Kino und Popcorn.«
    »Vielleicht kommst du trotzdem«, sagte Dorit leise und senkte den Blick. »Letztlich bin doch nur ich es, die noch für Fejge Schiwa sitzt, ich allein.«
    Dieser Bitte konnte ich mich nicht verweigern. »Ich werde kommen«, versprach ich und drohte: »Aber ich bringe Mohnkuchen mit.«
    »Einen trockenen, der einem im Hals stecken bleibt, wie ihn deine Mutter immer gebacken hat«, bat Dorit, und beide lachten wir.
    Dann ging sie, stieg in das vor dem Tor wartende Auto, winkte mir zu und fuhr davon.
     
    Ich blieb am Friedhofstor stehen und schaute hinüber zu den Häusern des Viertels jenseits der Straße. Auf jeden Fall ist es besser, Dorit im Emek zu besuchen als Golda im Viertel, dachte ich und fügte mich in das mir auferlegte Übel.
    Lange stand ich so da, bis mir bewusst wurde, dass ich allein war. Nur ich und die Toten, alle anderen waren fort. Ich rannte fast zum Parkplatz, stieg ins Auto und fuhr davon.
     
    Warum hat man mir nie gesagt, ob mein Vater lebte oder tot war? Warum schwiegen sie alle über sein Leben und über seinen Tod? Wo, zum Teufel, hatte meine Mutter ihn begraben? Mein Kopf dröhnte. Alle Geschichten, die ich mir selbst erzählt hatte, tauchten auf, alle Biographien, die ich mir ausgedacht hatte, schwirrten wild durcheinander.
    Traurigkeit breitete sich in mir aus.
    Genug, rief ich mich selbst zur Ordnung. Schon in meiner Jugend hatte ich mir befohlen, nicht länger in meiner Vergangenheit herumzustochern.
    Mein Auto holperte über den Sandweg, Staubwolken wirbelten auf. Ich fuhr langsamer. Meine Hände am Lenkrad schwitzten.
    Fast das ganze Viertel liegt schon hier begraben, dachte ich, und um mich zu zerstreuen, stellte ich mir ein Schild vor, auf dem stand: Der Friedhof ist belegt, bitte wenden Sie sich an einen Ersatzfriedhof. Und in Gedanken wandte ich mich an die Friedhofsleitung: Hoffentlich haben Sie dennoch einen Platz für Golda Poschibuzki reserviert. Ich hoffte, sie würde ebenfalls bald sterben. Die letzte, die vielleicht noch die Antworten auf meine Fragen weiß, wird verschwinden, sagte ich mir, und dann werde ich endgültig Ruhe haben.
     
    Ich erhöhte das Tempo wieder, der Geruch von Teer stieg mir in die Nase, von nahem war der Lärm schwerer Maschinen zu hören, Staub drang mir in die Augen, ich blinzelte.
    Die stummen Blicke von Itta, Fejge, Schmulik und all den anderen bohrten sich anklagend in mich.
    Was hatte ich eigentlich getan? Warum hatten sie mir nicht geantwortet?, fragte ich mich heute so wie damals.
    »Reicht es nicht, was Helena durchgemacht hat, braucht sie jetzt auch noch dieses Mädchen!«, hörte ich die bekannte Antwort. Wie bei einer obsessiven, hoffnungslosen Liebe versuchte ich nicht mehr unaufhörlich daran zu denken   – an das, was ich nicht wusste, an das, was sie mich nicht wissen lassen wollten.
    Plötzlich stieß ich mit meiner Stoßstange an eine Schranke.Jenseits der Absperrung schaufelte ein Bagger eine Trasse in den Sand, eine Walze verteilte glühendheißen Teer.
    Alle sind tot, ermahnte ich mich, und mit ihrem Schweigen haben sie mir befohlen, nicht zu wissen. Ich hatte mir sowieso immer Biographien ausgedacht. Vermutlich war und ist in meinem Fall die Lüge besser als die Wahrheit, tröstete ich mich. Ich versuchte, die ganze Sache abzuschließen, mich zu beruhigen.
    Ich saß fest. Ich atmete heißen Teergeruch ein, starrte in die Staubwolken und wartete darauf, dass jemand die Schranke öffnen und mich durchlassen würde.
    Es dauerte eine Weile, bis ich das Schild zur Kenntnis nahm: »Straßenbauarbeiten. Bitte der Umleitung folgen.«
    »Der
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