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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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ist aber kein Kakao!“
    Wichtig schob die Kleine das Tablett auf einen wackeligen Tisch. „Nee. Oma Jule hat gesagt, wenn einer traurig ist, gibt’s kein Kakao, dann gibt’s Seelensaft.“
    „Noch besser!“ Orje reichte Carly einen dampfenden Becher.
    „Seelensaft?“
    „Oma Jules Geheimrezept. Warmer, naturtrüber Apfelsaft mit einem Schuss Zitronensaft von unseren eigenen Hinterhofzitronen. Nelken und Zimt und ein Löffel Honig. Und Omas Geheimnis. Hilft gegen alles. Verrätst du mir jetzt, warum du so traurig warst?“
    Carly kostete vorsichtig. Herrlich! Es wärmte von innen, nicht nur den Magen, auch die Gedanken. Sie erzählte Orje von Rory. Er lauschte interessiert und schwieg mit ihr an den richtigen Stellen.
    „Zum Glück muss ich nicht von der Straßenmusik leben“, sagte er nachdenklich. „Ich bin Maler. Kein Künstler, sondern in einer Malerfirma. Ich habe mich darauf spezialisiert, Bordüren und Friese um Türen und Fenster und oben an die Wände zu malen. Muscheln, Blumen, Schwalben. Was du willst. Ich kam darauf, als ich die Friederike aufgemöbelt habe.“ Stolz zeigte er ihr das feine Dekor auf dem alten Holz.
    „Warum heißt sie Friederike?“
    „Sie ist über zweihundert Jahre alt. Friedrich der Große verlieh Drehorgeln an versehrte Kriegsveteranen, damit sie sich ihr Brot verdienen konnten. Einer meiner Was-weiß-ich-wie-viel-Ur-Großväter war so einer. Auf geheimnisvolle Weise blieb die Orgel in Familienbesitz. Man sagt, er war auch ein sehr geschickter Kartenspieler. Orje hieß er, wie alle ältesten Söhne seither. Manchmal nahm er sein Holzbein ab und legte es auf die Orgel. Man erzählt sich, dass er ein geheimes Münzfach darin hatte.“ Er strich über das alte Gehäuse. „Es ist eine Bagicalupo. Das ist der Mercedes unter den Drehorgeln. Bagicalupo war eine italienische Drehorgelbauerfamilie. Berlin entwickelte sich damals zum Mekka der Drehorgelbauer.“ Orje schmunzelte. „Wenn ich als Knirps meinem Opa zugesehen habe, wie er die Friederike spielte, da dachte ich, wenn er die Kurbel bedient, sorgt er dafür, dass die Welt sich weiter dreht. Er war ein Magier für mich, auch weil er damit ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen zauberte. Er und alle Orjes davor. Wenn ich die Musik höre, geht es mir ähnlich wie dir vorhin. Ich habe das Gefühl, die Stimmen der Toten sind alle darin lebendig geblieben.“
    Carly war, als sähe sie die lange Ahnenkette der Fiedlers hinter ihm stehen und ihr zufrieden zuzwinkern. Seltsam, vorn stand Rory unter ihnen. Ihre Eltern entdeckte sie nicht, auch nicht die kleine Valerie. Vielleicht riefen die Töne nur diejenigen in die Nähe und den Moment zurück, die mit Musik zu tun gehabt hatten, als sie lebten.
    Und die anderen? Gab es für sie auch einen Klang, ein Zauberwort, um die Erinnerung lebendig werden zu lassen?

    Die Dämmerung senkte Nebel auf den Hof. Oma Jule kam heraus. Sie reichte Carly kaum bis zur Schulter, aber sie funkelte geradezu vor Lebendigkeit.
    „Kommt rein, Kinder“, sagte sie, „es wird kühl!“
    Drinnen gab es Orjes Geschwister und die kleinen Nichten und einen Haufen verschiedener Verwandter, die Carly auch in den Folgejahren nie lernte auseinanderzuhalten, und sie spielten Fang-den-Hut und lachten bis spät in den Abend. Von da an gehörte Carly wie selbstverständlich zu dieser uferlosen, herzlichen Familie. Sie war dankbar dafür, weil sie so etwas nicht kannte.
    Vielleicht hätte sie auch irgendwann zu Orje gehört. Doch dann fegte Thore in ihr Leben.

    „Ich verstehe dich nicht!“, sagte Miriam Jahre später zu Carly. „Orje ist in jeder Hinsicht wunderbar. Verständnisvoll, vergnügt, ein angenehmes bisschen verrückt, und zum Vernaschen süß.“ Miriam liebte Alliterationen und Männer, die anders waren. „Was hast du nur an ihm auszusetzen?“
    „Überhaupt nichts! Orje ist ein Bruder für mich. Der tollste Bruder, den man sich nur wünschen kann.“
    Miriam stöhnte. „Bruder! Du hast doch einen Bruder.“
    „Ralph? Der ist weder verständnisvoll noch vergnügt. Und am allerwenigsten verrückt.“
    „Aber Orje und du, ihr seid doch wie ... wie ... na, unzertrennlich eben.“
    „Ich kann mir auch gar nicht mehr vorstellen, ihn nicht zum besten Freund zu haben. Aber ... na ja, du weißt schon. Tausendmal berührt – und es hat eben nicht Zoom gemacht.“
    „Ihm geht es da anders“, behauptete Miriam. „Also, ich würd’ ihn nehmen. Sofort.“
    Carly lachte. „Probier’ dein
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