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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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mehr schlucken.
    Bis die Musik verstummte und sie jemand behutsam an einem ihrer kurzen Zöpfe zog, in die sie ihre ungebärdigen rotbraunen Locken immer noch manchmal zwang.
    „Kann ich dir helfen?“
    Sie drehte sich um und sah in sanfte graue Augen. Der dazugehörige Mann schien kaum älter als sie selbst, trug ein rotes Halstuch und eine Schiebermütze und lächelte sie verständnisvoll an. Er hatte feine honigfarbene Haare, ein wenig zu lang, und einen lustigen Schnurrbart, für den er zu jung wirkte.
    Carly schniefte. Er reichte ihr ein Taschentuch.
    „Wie heißt du?“
    „Carlotta. Danke.“
    „Ich bin Orje. Orje Fiedler.“
    Erst jetzt sah sie das Instrument, das neben ihm auf einem hochrädrigen Wagen stand.
    „Ist das dein Leierkasten?“
    Er strich zärtlich darüber.
    „Eigentlich heißt es Drehorgel. Ja, das ist Friederike.“
    „Spielst du noch was?“
    Er sah sie prüfend an, nahm ihr das nasse Taschentuch aus der Hand und reichte ihr ein neues.
    „Gerne, aber nicht hier. Komm mit.“
    Er schob die Drehorgel behutsam über das gnadenlose Kopfsteinpflaster, um eine Ecke, durch eine offene Tür und einen Gang. Carly zögerte.
    „Komm!“, wiederholte Orje.
    Sie dachte an Rory. War sie ihm nicht auch überallhin gefolgt?
    Vor ihnen öffnete sich ein Hinterhof. Carly blieb staunend stehen. Neben einer Schaukel, auf der zwei Kinder spielten, gab es einen Springbrunnen, umgeben von Kübelpflanzen. Sie entdeckte Zitronen und Mandarinen. Oleander verbreitete dem Novemberwetter zum Trotz süßes Spätsommeraroma.
    „Meine Oma lässt die Pflanzen immer bis zum ersten Frost draußen. Dann kommen sie in den Keller“, erklärte Orje.
    Die Kinder kamen auf ihn zugerannt.
    „Meine Nichten“, sagte er.
    „Orje, wer ist das? Warum weint sie?“
    „Das ist Carlotta. Und damit sie nicht mehr weint, holt ihr einen Kakao bei Oma Jule, ja? Setz dich, Carlotta.“ Er wies auf einen Korbstuhl.
    Dann rückte er Friederike in Position, fingerte an der Seite herum, um irgendeine Einstellung vorzunehmen, und begann, die Kurbel zu drehen.
    Die Töne stiegen mit dem vom Hinterhof besänftigten Wind auf, ließen sich unsichtbar um Carly herum auf den Steinen nieder, blieben in den Zitronenbäumen hängen und riefen zusammen mit deren Duft die Bilder von Rory deutlich in die Gegenwart. Seine Hände, wie sie die Klöppel über das Glockenspiel bewegten. Seine leise, eindringliche Stimme, wenn er ausnahmsweise dazu sang. „ Hey Mr. Sandman, bring me a dream ...“ Die abgeschabten Ärmel seiner Jacke und seine stets etwas gebeugte Haltung. Sein seltenes Lächeln und die Art, wie er sich in ein Buch vertiefen und ihr hinterher alles erzählen konnte, was darin stand, nur dass der Inhalt erst dadurch einen ganz eigenen Zauber verliehen bekam. Sein trockener, angestrengter Husten und der Trotz, mit dem er sich die nächste Zigarette anzündete. Die Art, wie er eins wurde mit dem Saxophon, wenn er Stunde um Stunde spielte, für sich ganz allein und für Carly, der Glanz des letzten Tageslichts auf dem Instrument.

    Orje drehte gleichmäßig die Kurbel. Wenn eine Melodie zu Ende war, fummelte er geheimnisvoll an Friederike herum und spielte dann die nächste. Mit jedem Lied wurde Carlys Schmerz ein wenig leichter. Die Bilder von Rory waren so lebendig in ihr und blieben es, und seine Musik würde als ein leises warmes Echo allen Melodien anhängen, die noch in Carlys Leben klingen würden. Da war sie sich auf einmal sicher.
    Sie erkannte das alte Berliner Lied von der Emma auf der Banke an der Krummen Lanke und musste lächeln, weil Tante Alissa das früher manchmal gesummt hatte, wenn Carly nicht einschlafen konnte. Tante Alissa konnte keine Kinderlieder. Orje sah ihr Lächeln, lächelte erfreut zurück, ließ die Musik ausklingen und setzte sich neben Carly auf einen gebrechlichen Schaukelstuhl.
    „Wie machst du das, dass Friederike immer ein anderes Lied spielt?“, fragte sie.
    „Ich verschiebe die Walze ein ganz kleines Stück. Auf der Walze sind acht Lieder“, erklärte Orje. „Es sind sogar mehrere Walzen im Familienbesitz. Daher kann sie auch einige modernere Lieder. Lange war es Tradition, dass jede Generation ein oder sogar zwei Walzen anschaffte. Sie sind sehr teuer. Manche sparten jahrelang darauf, andere sollen sie am Kartentisch gewonnen haben. Heute stellt man sie so gut wie nicht mehr her, es ist zu aufwändig. Modernere Orgeln haben Lochbänder oder sogar Computersteuerung. He Mia, da seid ihr ja. Das
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