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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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sie immer Trost.
    Sie hatte zwar auch ihre mütterliche Freundin Teresa. Die wäre eine bessere Wahl gewesen, wenn Carly über Thore reden wollte. Aber Teresa war im Krankenhaus und wollte wie immer keinen Besuch. Und Miriam, mit der Carly seit der Schule befreundet war, war segeln. Am Ende war es, wie so oft, eben ihr bester Freund Orje, der für sie da war.
    Auf ihr Klingeln öffnete er prompt.
    „Dich schickt der Himmel!“, lachte er.
    „Mich oder den Nudelsalat?“
    „Beides. Komm rein. Oder besser, lass uns rausgehen. Die Wohnung ist unerträglich.“
    Er ging ihr durch das angenehm zugige Treppenhaus voraus in den Hinterhof, wo ein paar seiner kleinen Neffen im Schatten spielten und Oma Jule einen gießkannenähnlichen Limonadenkrug bewachte.

    Carly kannte Orje noch länger als Thore. Eigentlich hieß er Georg, wie sein Großvater und mehrere andere Vorfahren. Aber alle diese Georgs hatte man Orje gerufen, und dabei blieb es. Einer davon war legendär in Berlin.
    Den vorerst jüngsten Orje hatte sie neun Jahre zuvor an einem stürmischen Novembertag kennengelernt. Goldene Lindenblätter flogen ihr um die Ohren, während sie ziellos durch die Straßen lief. Carly war ratlose achtzehn und alles schien ihr gerade noch grauer und bedrückender als der Himmel. Die Angst vor den Abiturprüfungen lag ihr scharfkantig im Magen und obendrauf lastete die erwartete und dennoch nicht weniger schmerzhafte Nachricht von Rorys Tod, über die sie mit keinem reden konnte. Sie hatte Tante Alissa nie von Rory erzählt, und ihr großer Bruder Ralph hatte ihre erste Liebe mit einer Handbewegung als Kleinmädchenschwärmerei abgetan.

    Rory war ein Straßenmusikant, damals in Amerika in ihrem Austauschschülerjahr. Carly war sechzehn und fühlte sich unwohl in ihrer lärmenden Gastfamilie. So oft sie konnte, erforschte sie die Gegend unter dem Vorwand, das Land kennenlernen zu sollen. Rory saß im Stadtpark auf dem Brunnenrand und spielte Saxophon. Sie hörte von Weitem zu, aber als sie ihn am nächsten Tag an derselben Stelle fand, lockten die Töne sie näher. Rund und weich war ihr Klang, dunkel, langsam, als trieben sie auf dem warmen, südlichen Wind über den Sandweg bis vor ihre Füße, tröstlich und traurig zugleich. Ein andermal sah sie ihn auf den Stufen vor der Kirche. Seine Hände huschten zärtlich über ein eigenartiges selbstgebautes Glockenspiel, dessen Töne silbern daherkamen wie die neblige Dämmerung. Er nickte ihr zu, und irgendwann saß sie neben ihm und lauschte, lauschte. Tage später erst kamen sie ins Gespräch. Am Ende zog sie mit ihm von Platz zu Platz, stellte für ihn die Muschelschale auf, in die manche Passanten eine Münze warfen, und glaubte, das Land so am besten kennenzulernen: indem sie Rory zuhörte und die Menschen beobachtete, die dasselbe taten, im Vorübergehen wenigstens.
    Der Abschied am Ende des Jahres wurde ihnen bleischwer, doch es hatte nie eine Zukunft für sie gegeben. Carly war jung und unerfahren, aber nicht so naiv, dass sie ihr Abi, ihr Zuhause, eine vorstellbare Zukunft und das, was von ihrer Familie übrig war, für eine Illusion fallengelassen hätte. Rory hoffte zwar noch immer, entdeckt zu werden, aber er wusste so gut wie Carly, dass das nie geschehen würde. Zumindest nicht, solange er mitten in einem weiten, staubigen Land in irgendeiner Kleinstadt auf Brunnenplätzen herumsaß und ungewöhnliche Töne in das Leben zufälliger Passanten streute. Auch spürte er da schon, dass er krank war. Als Carly wieder zuhause war, schrieben sie sich, bis er die Tastatur nicht mehr bedienen konnte, weil der Krebs seine Lungen und seine Knochen auffraß. Dann diktierte er die Briefe noch wochenlang einem Freund. Schließlich bekam sie von diesem die erwartete Nachricht. Rory war seiner Musik in die Stille gefolgt.

    Carly packte den Brief weg, verdrängte ihre Trauer und konzentrierte sich auf ihre Chemieklausur. Bis auf dem Heimweg der kalte Wind zwischen den Straßenlärm runde, weiche Töne in ihre Ohren schummelte, die ihr vertraut schienen – und doch wieder nicht. Sie drängten sich an Carlys Vernunft vorbei und weckten den Schmerz um Rory und um das, was nicht hatte sein können. Darauf war sie in diesem Moment nicht vorbereitet. Sie lehnte sich gegen die nächstbeste Litfaßsäule. Litfaßsäulen hatte sie schon als kleines Kind gemocht: sie waren so beruhigend aufrecht, umfangreich und unverrückbar. Doch diesmal fand sie keinen Trost. Die Tränen ließen sich nicht
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