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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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Sternen ein.
    Es waren aber nicht nur seine Worte, mit welchen er die Studenten dermaßen einfing, dass jeder einzelne kerzengerade auf seinem unbequemen Stuhl saß und lauschte ohne auch nur einen Blick auf das grüne Frühlingsleuchten vor dem Fenster zu werfen. Es war sein Schritt, seine Art, sich wie ein Tänzer zu der Musik seiner Begeisterung durch den Raum zu bewegen und dabei mit den Armen zu dirigieren, als sei seine Vorlesung ein Schöpfungsakt. Gelegentlich lösten sich seine Schnürsenkel und folgten ihm eine Weile wie zierliche Schlangen ihrem Beschwörer. Dann bückte er sich und band sie zu, ohne in seinem Redefluss auch nur einmal zu stocken.
    Als er am Ende der Vorlesung ebenso schwungvoll verschwand, wie er gekommen war, segelten erneut drei Seiten unter Carlys Tisch. Sie lief ihm nach.
    „Herr Professor!“
    Er bremste kurz, nahm ihr die Zettel ab, ließ ihr noch ein Lächeln da und war schon um die Ecke.
    „Hui!“, sagte eine blonde Studentin neben Carly. „Der sieht gut aus, findest du nicht? Ziemlich jung für ‘nen Prof.“
    Carly fand, dass er ganz normal aussah. Seine dunklen Haare, die trotz ihrer Kürze an einigen Stellen unordentlich hochstanden, passten nicht zu den skandinavischen Vorfahren, die sein Name vermuten ließ, aber sonst war an seinem Aussehen nichts außergewöhnlich. Er war nicht einmal einen Kopf größer als Carly und sein dschungelfarbener Pullover war ausgeleiert. Seine Augen allerdings, ja, da machte etwas neugierig; sie waren irgendwo zwischen grau und blau, dazu waren je nach Lichteinfall auch grüne Spuren darin und gelegentlich ein Blitzen oder ein Sturm. So musste das Meer aussehen, das sie nur von Bildern kannte. Das Meer ... aber halt, hier durfte sie nicht weiterdenken! Das Tabu, das ihr Tante Alissa von klein auf eingeprägt hatte, galt auf seltsame Art immer noch. Wenn sie es nicht beachtete, wachte möglicherweise der Tod unter dem Teppich auf. Das hatte sie damals geglaubt; jetzt war es Gewohnheit, Tante Alissa zuliebe. – Thore Sjöbergs Augen jedenfalls konnte man lange ansehen, dennoch waren auch sie nicht ungewöhnlich. Es war irgendetwas anderes an ihm, das ein stummes Echo in ihr zurückließ.

    Die nächste Vorlesung war doppelt so voll. Es gab nicht viele Dozenten, die mit ihrer Begeisterung fürs Thema dermaßen ansteckten. Carly wählte diesmal einen Platz weiter hinten, doch als der Professor an ihr vorbeilief, verhielt er kurz, sah ihr in die Augen und fragte: „Kennen wir uns nicht?“
    Ehe sie antworten konnte, stand er schon an der Tafel. Später suchte er in seiner Aktentasche herum, fischte schließlich einen Schlüssel aus seinem Jackett und steuerte auf Carly zu.
    „Könnten Sie mir wohl ein paar Kopien aus meinem Büro holen? Raum 221. Der Stapel muss auf dem Tisch liegen. Den findest du.“ Er drückte ihr den Schlüssel in die Hand. Sie hatte schon bemerkt, dass er auch beim Vortrag nach Belieben zwischen „Sie“ und „Du“ wechselte.
    Sein Büro war ein vollgestopftes Chaos. Der gesuchte Stapel lag auf einem Stuhl, nicht auf dem mit Büchern bedeckten Tisch. Auf dem Boden vor der Tür lagen noch zwei Zettel mit handschriftlichen Notizen. Vorsichtshalber nahm sie sie mit. „Ah, Sie sind prima, da ist ja mein Konzept!“, freute er sich. „Würdest du die Kopien gleich verteilen?“
    Als sie nach der Veranstaltung sah, wie er sich bemühte, den Overhead-Projektor unter einen Arm zu klemmen und seine Aktentasche und mehrere Bücher unter den anderen, nahm sie ihm die Bücher stillschweigend ab. Ebenso sein Jackett, das Kugelschreiber streute.
    In seiner Vita las sie, dass er achtundzwanzig Jahre älter war als sie. Nicht alt genug, um so zerstreut zu sein, aber er war mit seinen Gedanken häufig in wissenschaftlichen Sphären unterwegs. Insofern bediente er gelegentlich das gängige Bild eines typischen Professors, der nicht ganz von dieser Welt ist. Dazwischen war er jung und ausgelassen, duzte sämtliche Anwesenden, wollte alles über alle wissen, war sich nicht zu schade, auf einer Feier mitzutanzen, im Schneidersitz zwischen den Studenten auf dem Gras zu sitzen oder abends mit ihnen in der Pizzeria zu essen.

    Dieses erste Sommersemester war aufregend, voll neuer Eindrücke und Herausforderungen. Schneller als gedacht, war es vorbei. Thore Sjöberg und Carly waren in eine Art Routine verfallen: sie sammelte auf, was er verlor, schwatzte der Bibliothekarin die Bücher ab, die er nicht mehr ausleihen durfte, weil er nie
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