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Das Aion - Kinder der Sonne

Das Aion - Kinder der Sonne

Titel: Das Aion - Kinder der Sonne
Autoren: Michael Marrak
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        Prolog
     
     
    Für einen kurzen Moment ließ Mira sich von einem aufschreckenden Käuzchen ablenken, das im Schutz der Nacht ein kleines Nagetier erbeutet haben musste. Trotz der Dunkelheit war das Mädchen die enge Häuserschlucht hinaufgerannt, hatte zwei, drei Stufen auf einmal genommen, eine Hand in den Saum seines Mantels gekrallt, die andere zur Orientierung an der vorbeirasenden Häuserwand ausgestreckt.
    Nun hatte sie sich vor Aufregung dazu verleiten lassen, dem erschrocken davonflatternden Nachtvogel nachzublicken. Mira verfehlte eine Stufe und stolperte. Beim Versuch, den drohenden Sturz abzufangen, verlor sie zwei der silbernen Blätter, die sie bei sich trug. Das Mädchen stieß einen leisen Fluch aus, rannte ein paar Stufen abwärts und las den verlorenen Schatz wieder auf. Geschwind verstaute es die Blätter in seiner Manteltasche und hastete weiter.
    Die Treppe war stellenweise so schmal, dass Mira die Häuserwände links und rechts mit den Fingerspitzen hätte berühren können, wenn sie beide Arme ausstreckte. Ihre Stufen führten in einem weiten Bogen empor auf einen menschenleeren Platz, der von gedrungenen, fensterlosen Gebäuden umgeben war. Im Mondlicht glitzerte sein Boden von Tausenden und Abertausenden von Glimmerstückchen, die in den Pflastersteinen eingeschlossen waren. Mia fühlte sich, als liefe sie über den Sternenhimmel.
    Das Mädchen lauschte nach verräterischen Schritten und Stimmen, doch es hörte nur den Wind, der durch nahe Baumkronen rauschte. Keine Wachen, kein lichtscheues Gesindel, der Platz war verlassen. In seinem Zentrum befand sich ein weiter Kreis grob behauener Steinquader, der einen runden, hüfthohen Sockel umschloss. An seiner der Treppe abgewandten Seite erhob sich ein mächtiger Schatten. Auf den ersten Blick sah er aus, als hätte jemand einen Haufen Säcke übereinandergestapelt. Ohne im Schritt innezuhalten, eilte Mira um den Steinkreis herum. Der Schatten besaß einen riesigen, runden Kopf, der auf einem krummen Schwanenhals saß und so platt war wie ein Brotfladen. Erst als Mira schwer atmend vor ihm stand, verharrte sie für einen Moment. Im Mondlicht wirkte ihr Gegenüber wie eine gigantische, vornübergebeugte Denkerstatue, die – beide Ellbogen auf die Knie gestützt – zu Boden starrte.
    »Jadamon?« Das Mädchen sah sich verstohlen um und trat über den Steinwall hinweg. »Jadamon, wach auf!«
    Der Schatten hob langsam den Kopf. Dabei knirschte es, als reibe Stein auf Stein. »Ich schlafe nicht, Mira«, erklang eine tiefe, sandige Stimme. »Ich schlafe nie.«
    »Entschuldige.« Das Mädchen senkte den Blick. »Es sah aber so aus …«
    »Glaube nicht immer, was du siehst«, murmelte Jadamon. »Glaube nur das, was du weißt. Ich habe lediglich zwei Nachtmarbeln beobachtet, die vor einer Stunde hier vor mir auf dem Boden gelandet sind. Seitdem streiten sich die beiden, ob sie rechts- oder linksherum um meine Füße wandern sollen. Im Augenblick diskutieren sie über die Wahrscheinlichkeit, dass auf der linken Seite ein Marbelwolf lauert …«
    »Das kannst du doch gar nicht hören«, sagte Mira.
    »Und ob ich das kann! Eine der beiden ist gerade dabei, das Terrain neben meinem linken Fuß auszukundschaften. Die zweite sitzt nur rum und macht ein griesgrämiges Gesicht. Sieht aus, als wäre sie beleidigt.«
    »Aber Nachtmarbeln sind sooo winzig!«, rief das Mädchen gedämpft und hielt Daumen und Zeigefinger so nah zusammen, dass kaum noch ein Haar dazwischengepasst hätte.
    »Ich weiß«, gab Jadamon zurück. »Doch ich habe scharfe Augen. Ich kann von hier aus die Spinne sehen, die über dem Arbeitszimmerfenster des Magistraten dort oben ihr Netz webt.«
    Mira warf einen Blick hinab in Richtung Marktplatz. Bis zum Haus des Magistraten waren es gut und gerne dreihundert Meter Luftlinie.
    »Die Spinne hingegen«, fuhr Jadamon fort, »kann all die Beschlüsse, Formulare, Urkunden und Erlasse erkennen, die der Magistrat unterschreibt, und webt die Informationen für mich in ihr Netz. Ich brauche sie dann nur noch abzulesen, und schon weiß ich, was ich wissen muss.«
    Mira verzog den Mund. »Lass mich raten: Die Spinne beim Magistraten ist nicht die einzige.«
    »Natürlich nicht. Viele wichtige Häuser erfordern viele fleißige Spinnen. Ich besitze ein wahres Netzwerk von Informanten.« Und mit einem verschwörerischen Unterton fügte Jadamon hinzu: »Ist natürlich eines meiner Berufsgeheimnisse.
    Sag’s also keinem weiter … Oh,
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