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Ausgerockt - [Roman]

Ausgerockt - [Roman]

Titel: Ausgerockt - [Roman]
Autoren: FUEGO
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Die Treppenstufen des alten Mehrfamilienhauses, in dem er wohnte, waren abgewetzt, einige Fliesen waren gerissen oder an den Kanten zerbröckelt. In den Ecken der Stufen sammelte sich Straßenschmutz.
    Seine Einzimmerwohnung lag im vierten Stock. Er hatte sich aus gutem Grund angewöhnt, freihändig zum Briefkasten hinunterzulaufen. Wenn er nicht daran dachte und mit der Hand über das lackierte Holzgeländer fuhr, spürte er wieder den unangenehmen filzigen Belag und nahm sich erneut vor, es nie wieder anzufassen.
    Es war kurz vor Mittag. Er hatte gerade sein Frühstück unterbrochen, um sich ein paar Werbeprospekte aus dem Briefkasten zu holen. Zum Frühstück blätterte er oft in Prospekten. Er kaufte die beworbenen Dinge nicht, er sah sich bloß gerne alles an.
    Linus fand, dass Prospekte wie Bilderbücher für Erwachsene waren. Die Kinder lernten, was ein Frosch war, die Erwachsenen lernten, was HD-Ready war.
    Als er unten ankam, hatte Linus das Gefühl, an seinen Fingern klebe etwas von dem filzigen Geländerbelag, obwohl er sich sicher war, dass er es nicht angefasst hatte.
    Die hohen Briefkästen waren geradlinig nebeneinander aufgereiht. Der Anblick erinnerte an einen riesigen Patronengürtel.
    Sein Kasten war der zweite von links. Linus rüttelte an der Klappe, bis sie scheppernd aufflog und etliche Prospekte herauskippten. Er bückte sich, um sie von den staubigen Fliesen aufzusammeln.
    Noch auf der Treppe durchsuchte er den kleinen Stapel nach Briefen und Lieferservice-Karten. Als er sich zwischen dem zweiten und dritten Stock befand, stieß er auf den Brief.
    Er vergaß einzuatmen, sein Puls machte einen Aussetzer.
    Es war der Brief, auf den er gewartet hatte, den er gefürchtet hatte und von dem er geträumt hatte. Er schob ihn zurück zwischen die Prospekte und stieg hinauf in den vierten Stock.
    Es verging über eine Stunde, bis Linus den Brief wieder aus dem Stapel zog. Sein Kaffee war längst kalt geworden, das Toastbrot pappig.
    Er hielt den schmalen Umschlag mit beiden Händen fest und setzte sich auf einen abgewetzten Cocktailsessel gleich neben der Zimmertür.
    Während er mit beiden Daumen sachte über den Umschlag strich, als könne er seinen Inhalt noch beeinflussen, fiel sein Blick auf eine Fender Japan Gitarre, die vor ihm auf dem Boden lag, folgte blinzelnd einem kurzen Kabel, welches von der Gitarre zu einem kleinen Verstärker führte, und kam auf dem darauf angebrachten Schriftzug Roland Cube zur Ruhe. Dann wanderte sein Blick zu den drei hohen Flügelfenstern.
    Irgendwo hinter diesen schmutzigen Scheiben musste doch Zuversicht zu finden sein. Zuversicht.
    Linus riss den Umschlag auf, zog den Brief heraus und faltete ihn auf. Dann sah er noch einmal aus dem Fenster, und ohne es bewusst heraufbeschworen zu haben, erlebte er einen kurzen Moment tiefer innerer Ruhe.
    Sein Blick glitt hinab auf den Brief.
    Den Inhalt erfasste er sofort. Er war geübt, filterte gewisse formale Merkmale oder nur ein einziges aufblitzendes Wort.
    Dieses Mal war es, neben dem verräterisch geringen Gesamtumfang des Textes, das Wort »leider«, zweite Zeile rechts, das Linus gleich ins Auge fiel.
    Sehr geehrter Herr Keller,
    vielen Dank für die Zusendung Ihrer Demo CD »Planecrash«. Nach eingehender Prüfung müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir keine Möglichkeit für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sehen. Bitte werten Sie diese Absage nicht als persönliches Urteil und haben Sie bitte Verständnis, dass wir unsere Entscheidung aufgrund der Vielzahl der Einsendungen nicht weiter begründen können. Wir wünschen Ihnen bei Ihren Bemühungen weiterhin viel Erfolg.
    Mit freundlichen Grüßen
    Tobias Glattauer
    A & R, Sony BMG
    Linus faltete den Zettel zusammen und schleuderte ihn wie eine Frisbeescheibe von sich. Ein zweifach gefalteter Brief flog natürlich nicht wie eine Frisbeescheibe. Das Blatt öffnete sich mit einem Flattergeräusch und landete mit der Schrift nach oben auf der Gitarre.
    Wie ein Leichentuch auf einem Traum.
    Er hatte gewusst, dass die meisten Menschen mit ähnlichen Ambitionen wie den seinen einmal diesen Moment erlebten. Die Ankündigung eines schwarzen Loches, das sie nicht noch einmal würden überspringen können.
    Er hatte es gewusst. Aber, wie viele andere vor ihm, hatte er nicht geglaubt, dass es ausgerechnet ihn treffen würde.
    Und auch er, Linus Keller, hatte nicht noch einmal die Kraft, über sein schwarzes Loch hinwegzuspringen.
    Es war Zeit, hinabzusteigen.

    Draußen
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