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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen
Autoren: Patricia Koelle
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machten sie sich daran, die verstreute Post aufzusammeln, die aus seinen Packtaschen geschleudert worden war. Carly fragte sich nicht zum ersten Mal, warum ein Briefträger, der nicht Fahrrad fahren konnte, grundsätzlich dermaßen gut gelaunt war. Sie hätte es ihm gerne nachgemacht.
    „Der hier ist nass geworden, soll ich ihn schnell trocken föhnen?“
    „Ach was! Der Herr Annighof kennt mich doch. Dem macht das nix. Hier, für Sie! Schönen Tach noch!“
    Zweifelnd betrachtete Carly die Umschläge in ihrer Hand. Vorsichtshalber setzte sie sich auf die Treppenstufen. Die Zahnarztrechnung hatte sie erwartet. Das andere waren Absagen. Carly brummelte vor sich hin. Die von der Sternwarte auf dem Wendelstein war keine Überraschung. Aber auf die Landessternwarte von Thüringen in Tautenburg hatte sie ein wenig Hoffnung gesetzt. Thore hatte dort ein gutes Wort für sie eingelegt. Aber es gab einfach keine freien Stellen!
    „Ach, Abraham. Ich bin gespannt, wovon ich meine Miete demnächst zahlen soll“, sagte sie zu dem Rosenstock neben der Treppe. Sie hatte ihn nicht so getauft. Abraham Darby, so hieß die Sorte. Das stand auf einem verblichenen Schild um den Stamm des betagten Stocks, der den ganzen Sommer über bis in den Herbst aprikosenfarbene Blütentrauben über Gartentor und Treppe hängen und den passenden Duft in die Tage fließen ließ. Carly hatte sich schon als kleines Mädchen mit ihm angefreundet und angefangen, mit ihm zu sprechen. Manchmal tat sie es immer noch. Schließlich wohnten sie zusammen. Sie bewirtete ihn mit Wasser und Dünger, und er winkte ihr mit seinen langen Ranken fröhlich zu, wenn sie zum Tor hereinkam. Warum ihm nicht ein paar Worte widmen? Es fühlte sich tröstlich an. Jetzt ließ er ein Blütenblatt in ihren Schoß fallen, auf den Absender aus Tautenburg.
    „Das Schlimme ist, ich bin gar nicht richtig enttäuscht“, vertraute sie Abraham an. Das konnte sie nicht einmal Thore sagen. Sie war stolz auf ihren guten Abschluss und das Wissen, etwas zu Ende gebracht zu haben. Aber schon länger trieben sich Zweifel in ihr herum, ob sie das Richtige gelernt hatte. Ob sie das wirklich den ganzen langen Rest ihres beruflichen Lebens machen wollte? Astronomie, das war heutzutage eben kaum noch „Sterne gucken“, wie sie einmal gedacht hatte. Das waren hauptsächlich Zahlen. Wenn man Beobachtungsdaten benötigte, musste man ein halbes Jahr vorher einen Antrag stellen um an ein Fernrohr zu dürfen, an einer der wenigen Sternwarten, die noch ein eigenes Teleskop hatten. Das hieß, ein sogenanntes Vorblatt auszufüllen, bei dem es sich um zehn Seiten technischer Angaben handelte: wo lag der Stern, wie hell war er, warum wollte man die Daten und wozu? Irgendein Komitee entschied dann darüber, ob das Anliegen wichtig genug war um ihm den Vorzug gegenüber anderen Interessenten zu geben. Wie oft hatte sie das für Thore erledigt! Am Ende bekam er meist, was er wollte; er hatte eine Menge Durchsetzungsvermögen.
    Aber Carly hatte die Zahlen und die Anträge satt. Es genügte ihr, auf dem Rücken im Gras zu liegen und die vertrauten Sternbilder zu suchen: Pegasus mit Füllen, Orion, Leier, Schwan, Plejaden, Kassiopeia, Perseus, Giraffe ... Ein Märchenland da oben, das zu jeder Jahreszeit andere Geschichten erzählte. Ein kleines Teleskop genügte, um auch die Mondmeere und die Saturnringe oder Kugelsternhaufen zu bestaunen.
    Sie vermutete, dass es Thore manchmal ähnlich ging. Er hatte zwar kein Problem mit Zahlen, Kurven, Statistiken. Aber die Sternbilder verführten auch ihn immer wieder dazu, aus der griechischen Mythologie zu zitieren und das eine oder andere hinzuzudichten. Sein augenblickliches Projekt befasste sich mit der Frage, warum manche Galaxien schwächer leuchten als andere. Er führte Untersuchungen über Anzahl und Alter ihrer Sterne durch, um Hinweise darauf zu finden. Aber ebenso erfand er Geschichten, wo das Licht geblieben sein könnte. Dann kam der Erzähler in ihm durch; nichts hielt ihn auf dem Stuhl, und seine Augen blitzten, als hätte sich das fehlende Licht genau dorthin verirrt.

    Carly bemerkte eine blütenschwere Ranke, die abzubrechen drohte, und band sie sorgfältig hoch. Den Draht hatte sie für solche Notfälle in den Pusteblumen zu Abrahams Füßen versteckt, die sie als Hausmeisterin eigentlich hätte morden sollen.
    „Unkraut!“, würde Frau Jensen, die Hausbesitzerin, wettern, wenn sie wieder einmal geruhte vorbeizukommen. Aber auf die hatte schon
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