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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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DER LASTWAGEN WAR VORN eingeknickt und stand quer zur Straße. Er blockierte eine regionale Radrundfahrt. Die Fluchtgruppe war von dem Unfall gestoppt worden, und das Rennen hatte neutralisiert werden müssen. Ein Personenwagen schlitterte in den bunten Schwarm hinein, der Fahrer, ein junger Mann, hatte die Gefahr zu spät erkannt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können.
    Iris hielt an.
    Es sah schlimm aus.
    Iris hatte anhalten können. Was im ersten Augenblick nur ärgerlich war, eine Störung, ein dummer Zwischenfall, der Iris nicht in den Kram passte, zeigte dann seine andere Seite. Iris hatte Glück gehabt. Sie und Paul waren verschont geblieben, sie waren mit heiler Haut davongekommen.
    Iris stellte den Motor ab, presste die Hände auf Augen und Stirn. Paul saß neben ihr, machte ein bekümmertes Gesicht, die Arterie an seiner Schläfe zuckte. Vor ihnen standen zehn, zwanzig Autos, sprungbereit, sie mussten sich gedulden. Familien stiegen aus, ungehalten, neugierig, auch die Gelegenheit nutzend, ein wenig die Gelenke zu lockern, die Füße zu vertreten. Kinder quengelten. Männer legten die Hände auf die knisternde Kühlerhaube, darunter kühlte der Motor ab. Man rauchte, telefonierte, was ist hier los, man fotografierte und verschickte Aufnahmen und Grüße. Ein junger Mann hob seine Freundin hoch, damit sie über alle Köpfe hinweg das Schlamassel dort vorn mit dem Handy filmen konnte.
    Paul drängelte zur Unfallstelle vor, andere Neugierige befanden sich schon dort. Aus dem Laderaum des mit gebrochener Vorderachse gestrandeten Lastwagens waren Molkereiprodukte gerutscht, Milch überschwemmte die Straße. Einige der Radrennfahrer hockten zwischen aufgeplatzten Verpackungen in Pfützen. Kaputte Räder lagen herum. Paul fotografierte. Ein langer Schlacks weinte, seine rechte Schulter war ausgekugelt oder gebrochen, er umschloss das Gelenk mit der linken Hand, senkte das Gesicht auf den Kopf eines Mannschaftskameraden, der eine aufgerissene Hose hatte, Schürfungen am Hintern, und ihn stützte. Die meisten Rennfahrer standen erschrocken da, mit offenen Wunden, blutend. Sie trugen hautenge Trikots mit fetten Lettern auf der Brust und hatten farbige Helme auf dem Kopf.
    Iris Mund war ausgetrocknet, sie trank einen Schluck Wasser, wollte gelassen bleiben. Doch die gewünschte Gelassenheit erwies sich einmal mehr als unerreichbar. So ein Mist. Am liebsten hätte Iris laut schreien mögen. Sie ballte die Hand zur Faust und presste die Zähne in ihre Fingerknöchel.
    Die Retter waren bereits vor Ort, Sanitäter in weißen Overalls versorgten wimmernde und verstörte Verletzte. Ein regloser Körper lag zugedeckt unter einer grauen Plane. Träger eilten mit Bahren zum Rettungswagen, der mit offener Hecktür bereitstand. Medizinische Geräte wurden zu den Liegen getragen, auf die man die Verletzten gebettet hatte. Auf dem Dach des Einsatzwagens blinkte ein Licht, der Fahrer bediente das Funkgerät. Polizisten in Stiefeln, die Pistole im Holster, zivile Beamte mit Klemmbrettern und Laptops, die flinken Teams der Rettungswagen: Jeder auf dem Platz schien genau zu wissen, was er zu tun hatte, was das Notwendige war. Der nassen Fahrbahn wegen war es beinahe unmöglich, Markierungen auf dem Asphalt anzubringen, Milch löschte Kreide.
    Im Randbereich, alle überragend, stand ein bulliger Mann. Die Jacke des Anzugs spannte über dem Bauch, ein T-Shirt mit einem Smiley war zu sehen. Leo Zimny hatte als einer der Ersten anhalten müssen. Er war ausgestiegen, um sich umzusehen, und entdeckte nun, in der Reihe der Gaffer, einen Mann, den er zu kennen glaubte. Er beobachtete ihn, das Gesicht und wie er sich bewegte. Ja, alles kam ihm bekannt vor. Der ältere, fotografierende Mann rief Erinnerungen an einen jungen Kerl wach, von dem er einmal angenommen hatte, er wäre sein Freund. Inständig hoffte Leo, es handle sich um eine Verwechslung, eine Ähnlichkeit der Gestalt. Er würde sich gern täuschen. Doch der so harmlos wirkende Typ war Paul Fontana. Einen Steinwurf von ihm entfernt machte er Fotos von dem Unfall, der sie beide an der Weiterfahrt hinderte. Die Vergangenheit, in die Paul Fontana gehörte, hatte Leo versiegelt, und nun war das Siegel gebrochen.
    Leo presste die Hände auf die Schläfen, als drohte sein Kopf zu zerspringen, als müsste er ihn zusammenhalten. Kurz pfiff er durch die Zähne, wusste sich in seiner Bestürzung nicht anders auszudrücken. Sein Körper reagierte willkürlich. Zugleich bereute er die
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