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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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waren Eisschollen. Alice getraute sich nicht, von der einen zur nächsten zu springen. Sie scheute vor der Leere zurück. Nirwana. Er musste aufpassen, damit Alice ihm nicht abhandenkam, jetzt, da sie, auf Buddhas Treppe hochgestiegen, ganz oben auf der Plattform stand. Sie könnte verweht werden. Er wollte nicht, dass seine Alice erlosch wie ein x-beliebiger, unbedeutender Stern. Jetzt raschelte ein Tier nicht weit von ihm entfernt in den hohen Gräsern der Uferböschung, eine Maus, ein Vogel, eine kleine Schlange. Verpiss dich. Und wenn ein Fisch sprang, hörte er, wie der Leib zurückplatschte ins Wasser.
    Später öffnete Leo die letzte Flasche Bier, und als sie leer war, erhob er sich und ging langsam zum Parkplatz. Er blieb vor seinem Toyota stehen, er würde im Auto schlafen. Er öffnete die Tür, klappte die Vordersitze nach hinten. Aus dem Kofferraum holte er eine Wolldecke. Er zog sich nicht aus, öffnete aber die Schnürsenkel seiner Schuhe. In der Dunkelheit besprach er mit Alice die letzten Details des Plans, sie schlief ebenfalls im Auto, lag dicht neben ihm. Er hatte die Wolldecke über ihren schmalen Körper gelegt, damit sie nicht fror. Er war ganz entspannt. Er hatte ein rundes, aufgedunsenes Gesicht, trotzdem ein Buddha-Lächeln. Leo wusste, dass diese Nacht die letzte Nacht im Leben von René Spring sein würde.
    In den brüchigen Momenten vor dem Einschlafen, in diesem diffusen Zwischenbereich, trieb er in Gedanken durch das gemeinsame Leben, das Alice Braun und ihm, Leo Zimny, vorenthalten worden war. Sie hatten ihr Familienglück nicht leben dürfen, sie waren füreinander bestimmt gewesen, ein Paar, ein Liebespaar, das nie ein Bett teilte. Jedermann hätte gesagt, ein tolles Paar. Er wäre der Vater von Alices Kindern geworden. Natürlich hätte er ein Haus für seine Familie gebaut. Alice hätte Möbel und Hausrat angeschafft. Er liebte Alice, sie liebte ihn. Alice gebar drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen, er suchte Namen für sie. Tina, Maria und Bob. Die Mädchen hatten Alices Haarfarbe, gerieten nach ihr, der Junge schlug eher nach ihm. Der Junge war ein lang gewachsener Basketballspieler, ein sehr guter Schüler. Die Mädchen waren begabte Turnerinnen, sie spielten auch ein Instrument. Klavier. Er liebte seine Kinder, sie sagten, du bist der beste Vater der Welt.
    In einer anderen Version zog er mit seiner Familie aufs Land, sie lebten in einem alten Bauernhaus, das er renoviert hatte, hielten Tiere, die Kinder bekamen einen Hund und ein Pferd, eine schwarze Stute, die Katzen zählte man nicht, und Alice zog die dicksten Kürbisse der Gegend. Sie unterrichtete weiterhin Sport. Er wäre in diesem Leben Tunnelbauer geworden, Sprengmeister. In jedem dieser Leben fuhr er ein geräumiges Familienauto. Einen stabilen Volvo. Sie reisten ans Meer in die Ferien. Auf dem Campingplatz stellten sie ihr Zelt auf, ein blaues Hauszelt. Leo brachte seinen Kindern bei, wie man mit einem scharfen Messer hantierte, ein Feuer mit nassem Holz anfachte und Fleischspieße briet.
    Zusammen besuchten sie den Zoo. Er führte sie zur Anlage und zum Haus der Nashörner. Der Bulle, der dasteht wie sein eigenes Denkmal, sagte Leo zu seinen Kindern, döst. In seinem schönen Kopf erinnert sich etwas unterschwellig an die Zeit vor der Zeitrechnung. An einen Sonnenuntergang vor der letzten Eiszeit. Der Bulle ist dämmerungs- und nachtaktiv, er hat eine ausgezeichnete Nase, sieht aber fast nichts. Die Vögel auf seinem Rücken lässt er darum gewähren, Vögel haben scharfe Augen, sobald sie einen Feind erspähen, fliegen sie auf, die Vögel auf seinem Rücken sind das Warnsystem des Nashorns, sein Radar. Der Bulle greift alles an, was ihm zu nahe kommt, seine Angriffe sind nicht sehr zielgerichtet, wegen des Horns enden sie trotzdem fast immer tödlich.
    Leo betrauerte seine und Alices Kinder, die nicht hatten geboren werden dürfen. Denen er nie die Tränen abgewischt, denen Alice nie ein blutendes Knie verarztet hatte, die sie nie hatten lachen hören, mit denen sie nie Brettspiele, Karten oder Schach gespielt hatten. Nie den Weihnachtsbaum geschmückt, nie einen Geburtstagskuchen gebacken. Kein Schulfest. Kein Streit. Leo hätte seine Kinder niemals geschlagen und jedem, der ihnen zu nah gekommen wäre, mit den Daumen die Augen eingedrückt.
    Mit viel Feingefühl und Zärtlichkeit hatte er Alice Brauns Augen am frühen Morgen des 21.Juli zu schließen versucht. Mit dem Zeigefinger und mit dem Mittelfinger der
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