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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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sie zusammen oft Streife gefahren war, hatte plötzlich zu atmen aufgehört. Herzstillstand. Sie waren nach der Beerdigung zufällig in den Bereich der Familiengräber gelangt. Tom hatte die Namen gelesen, sie erloschen nicht mit dem Leben, sie überdauerten es. Auch die nur liederlich eingehaltene Chronologie des Sterbens beschäftigte ihn, der Tod mischte die Generationen ungebührlich auf, eine Tatsache, die Tom lieber verdrängte. Jara fürchtete den Tod weniger als er; sie rechnete fest mit der Auferstehung des Leibes und mit dem ewigen Leben. Friedhöfe waren für sie unerlässliche Zwischenlager.
    Auf den Kieswegen zwischen Buchsbaum und Thuja, zwischen steinernen Grabmälern und zart duftenden Rosenhecken atmete Jara freier als Tom. Aber dem mit einem Familiengrab einhergehenden Wunsch einer Zusammengehörigkeit über den Tod hinaus, konnte auch sie nichts abgewinnen, diese Art von Familienglück war ihnen beiden fremd. Es wäre Tom unerträglich, den eigenen Grabplatz schon jetzt zu kennen. Seine Familie strebte eher auseinander, als dass sie zusammenhielt. Auf dem Friedhof verdichtete sich zu viel Vergangenheit. Alles hier erzeugte eine unangenehme Stimmung.
    Jetzt war Tom allein auf dem Friedhof. Die Bepflanzungen der Gräber waren alle ähnlich. Rot und Gelb, ein stechendes Violett, viel Grün und gestutzte Hecken. Er suchte ein Grab, ein frisches, in der letzten Reihe. Es gab Engel aus Stein, Todesengel, Liebesengel und Schutzengel, die das Schlimmste nicht hatten verhüten können. Es hatte nicht in ihrer Macht gelegen. Auch standen exotische Bäume da, die eine immense Blätterlast trugen. Nichts atmete. Die Geometrie der Anlage, die Exaktheit der Gräber und Grabfelder. Lauter rechte Winkel. Das Gegenteil von dem, was Tom mit dem Tod verknüpfte.
    Nur die Vögel durchbrachen das Schweigen. Der Friedhofsgärtner richtete einen schiefen Grabstein auf. Ein alter Mann rupfte Unkraut aus, eine schwarz gekleidete Frau goss lappige Setzlinge. Auch der Himmel über den Gräbern kam Tom wie ein Geviert vor. Abgezirkelt. Stille, in die kein Herz hineinschlug. Sämtliche Herzen hatten hier ausgedient, alle Gedanken waren zur Ruhe gekommen. Jede Stimme war verstummt. Das Prinzip Friedhof bedrückte Tom. Grab an Grab, Stein neben Stein, Kreuz bei Kreuz.
    Alice Braun,
    Feld4. Allgemeine Kategorie.
    Reihe 15, Grab Nr. 907
    neu angelegt.
    Das frische Grab fiel Tom sogleich auf. Ein Steingarten. Weiße und schwarze Kiesel zu einem Herz gefügt. Ein Rosenquarz lag in der Mitte. Neben dem Kreuz mit dem Namen steckte eine Vase mit frischen gelben Rosen in der Erde. Davor lag ein schwarzer, dreieckiger Stein, der einer prähistorischen Pfeilspitze ähnelte. Toms Herz begann laut zu klopfen. Vor ihm lag der Meteorit, der Himmelsstein aus Eisen und Nickel, den er bisher nie an einem anderen Ort als auf dem Schreibtisch von Paul gesehen hatte.
    Tom stand am Grab von Alice Braun und zwang sich, ruhig zu bleiben, dem Impuls zu fliehen nicht vorschnell nachzugeben. Er verschränkte die Hände mit fast schmerzhaftem Druck auf dem Rücken. Seine Fantasie und die Wirklichkeit waren in diesem Augenblick deckungsgleich. Alles, was er sich ausgemalt hatte, traf zu. Mit seinem Verdacht offenkundig richtig zu liegen, jagte ihm Angst ein.
    Hier also war Alice Braun bestattet worden. Ein zufälliger Besucher des Friedhofs bemerkte nichts Außerordentliches. Tom starrte den Meteoriten an, der ihm seit der Kindheit vertraut war, dieses sonderbare Bruchstück von einem anderen Stern, und erwog, ihn aufzuheben und einzustecken. Der Stein gehörte doch Paul. Tom schaute sich um, voller Misstrauen. Plötzlich überrumpelt von Zweifeln. Hatte er denn die Situation und alle seine Sinne unter Kontrolle? War er außer sich, war er bei sich, war ihm der Fall nicht schon längst entglitten?
    Schlitterte er auf einer Rutsche abwärts ins Verderben?
    Tom benötigte jetzt so etwas wie eine Richtschnur. Er erwog, Jara anzurufen, ihr genau Bericht zu erstatten und sie um Hilfe zu bitten.
    Leo Zimny könnte das Grab besuchen. Jetzt. Möglicherweise hatte er sich vor einer Viertelstunde noch vor Ort aufgehalten. Möglicherweise kreuzte er in den nächsten fünf Minuten hier auf, war er bereits unterwegs zu Alices Grab.
    Wollte Tom hier auf Leo Zimny warten?
    Hatte er vor, ihn mit dem Handy zu fotografieren?
    Vielleicht hielt sich Leo Zimny bereits im Friedhof auf, und Tom konnte ihn nicht sehen. Er lauerte Tom auf, hielt das Messer schon in der Hand. Tom
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