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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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befohlen hatte, die Sache vorläufig auf sich beruhen zu lassen und Paul Fontana und seiner Frau am kommenden Tag zunächst einmal den Fiat Bravo abzunehmen und davor die Kollegen zu Hause anzurufen, damit sie ihm helfen konnten.
    Aber seit Genua war er der Zeit nur noch hinterhergehechelt bis zu Ivo Blumes Haus. Und am See war dann ein Typ mit riesigem Kopf aus dem Wald getreten, ein Clown, der wie ein Trottel auf das Anwesen zusteuerte, Tanzschritte ausführte, die Arme ausstreckte. Leo hatte sich hinter dem Bootshaus versteckt gehalten. Das war unbefriedigend gewesen, das Ergebnis stümperhaft. Er hätte schnell handeln müssen, er hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst, einmal mehr. Der zittrigen Hände wegen. Weil seine innere Stimme ihn daran hinderte, nahtlos zu handeln. Weil er nicht fähig war, Gedankenknäuel in seinem Kopf zu vermeiden und die Dinge in der richtigen Reihenfolge zu erledigen. Er hätte den heimkehrenden Ivo Blume nicht so eingehend beobachten, sondern gleich stellen sollen. Immerhin war es ihm gelungen, unbemerkt abzuhauen. Aber in Genua? Leo war sich nicht sicher, ob Paul ihn erkannt hatte– oder seine Frau. Er hatte einiges in der Hektik übergangen, er war nicht kalt genug vorgegangen. Leo hoffte, dass sein Versäumnis ungestraft blieb. Zeichen, dass Paul Fontana ihn erkannt haben könnte, hatte es nach seiner Einschätzung nicht gegeben, kein Staunen. Dafür Entsetzen. Er hatte sich daran ergötzt, als Paul Fontana mit einem ungläubigen Blick zu Boden gegangen war und die Frau sich überwältigt von Furcht über ihren Mann beugte. Leo schnitt ihr die Bluse auf, bevor er zum Fiat rannte, sich hineinsetzte und losfuhr.
    Inzwischen hatte Leo Sils Maria erreicht und das Auto in der Nähe des Sees abgestellt. Es war dunkel, er hatte Hunger und Durst. Mit dem Proviant ging er ans Ufer. Der See breitete sich schwarz und ruhig vor ihm aus. Das Wasser war so glatt, dass der Nachthimmel sich darin spiegelte. Leo setzte sich ins Gras, schloss die Augen und ließ sich auf den Rücken fallen. Er blieb so liegen, ausgestreckt am Ufer, atmete ein und aus, hörte und roch den See. Die Stelle war geschützt, jemandem, der vorbeiging, würde Leo nicht auffallen. Nach einigen Minuten, in denen er trotz der äußeren Stille die Brandung in sich selbst nicht hatte beruhigen können, öffnete er die Augen wieder. Er blickte in einen Himmel voller Sterne, suchte darin sein Tierkreiszeichen. Als er es entdeckte, dachte er sogleich, diese Konstellation habe nichts mit ihm zu tun, die Sterne seien ohne Einfluss auf sein Geschick, ohne Nutzen für den Augenblick.
    Neulich hatte ein Kollege in der Wäscherei behauptet, das Licht eines Sterns sei Millionen Jahre unterwegs gewesen, bevor ein Teleskop es aufgefangen habe. Na und. Es gab Zahlen, bei denen es völlig egal war, wie viele Nullen sie hinter sich hatten. Vom Sternendach über dem Gebirge hatte er nichts zu erwarten, nichts zu befürchten. Obwohl fortwährend Schnuppen herabregneten. Er dachte nicht ohne Kummer an den kleinen Meteoriten. War es nicht ungeheuerlich, dass dieser ohne Ziel abgeschossene Pfeil die Erde getroffen hatte? Bekäme Leo einen Schlüssel in die Hand gedrückt und die Auskunft, das Haus, zu dem er passe, befinde sich irgendwo auf der Welt, auf einem der fünf Kontinente, wäre die Wahrscheinlichkeit, es zu finden, viel größer. Aber es könnte auch sein, dass er sein Haus fand, und es war bloß ein Kartenhaus und seine unglückliche Familie… er sollte sich nicht mit Hirngespinsten selbst fertigmachen.
    Leo setzte sich abrupt auf, brach mit den Händen ein Ende vom Brot ab, schob es in den Mund, kaute, öffnete eine Flasche Bier, trank sie leer. Er höhlte den Laib aus, klaubte mit den Fingern Stücke heraus, verschlang zuerst die weiche Masse und trank mit langen Schlucken Bier.
    Seit sie ihren Platz im Friedhof eingenommen hatte, hatte er das Gefühl, Alice sei frei geworden, bewege sich leicht, alle Last sei von ihr abgefallen. Alice wohnte dort in dem mit weißen und schwarzen Steinen geschmückten Grab und spazierte, wenn sie nicht zwischen den Sternen reiste, unerkannt auf den verzweigten Kieswegen umher und setzte sich auf eine Ruhebank unter den Bäumen, den Rollstuhl benötigte sie nicht mehr.
    Endlich befand sie sich auf der sicheren Seite.
    Das frische Brot war aufgegessen, Leo öffnete die nächste Flasche Bier. Der Himmel über ihm funkelte. Dort oben, im Reich ohne Ende, herrschte eine unsägliche Kälte. Die Sterne
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