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Der magische Wald

Titel: Der magische Wald
Autoren: Paul Kaerney
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KAPITEL EINS

    Für einen Erwachsenen, dem die Müdigkeit der Welt durch die Adern fließt, ist das Land überschaubar und ohne Geheimnisse -wie ein Schiffsmodell in einer Flasche. Irland ist ein kleines Land, und seine nördliche Provinz ist noch kleiner. Es ist vom Meer umgeben, und vom höchsten seiner Berge kann man das halbe Land überblicken. Für ein Kind jedoch ist das Land grenzenlos und unermeßlich groß -aber wer wäre schon so töricht, es vermessen zu wollen? Es besteht aus blauen Bergen, die sich nach allen Seiten hin am Horizont erheben, aus riesigen, unheimlichen Wäldern und rauschenden Flüssen, die einem fernen, unbekannten Meer zueilen. Für ein Kind ist ein Ausflug über drei Felder eine Expedition, kommt es einer Fahrt über den Amazonas gleich, wenn es einem Flüßchen eine Meile weit folgt. Ein kleines Land also, nicht aber für ein Kind. Groß genug für Märchen. Tief wie der Torf finden sich Zeugnisse der Geschichte. An einsamen Stellen liegen Waffen versteckt, von denen einige schon seit einem halben Jahrhundert in Vergessenheit geraten sind; andere liegen gut eingefettet für künftige Morde bereit. Seit undenklichen Zeiten sind immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen aufgeflackert. Sie sind ein Ritual, wie das Drehen der Erde, ein blutiges Opfer an alte unzufriedene Götter. Sie sind ein Teil des Lebens dort. Auf dem Grund der Flüsse findet man bleiches Keltengold oder -noch älter bearbeiteten Feuerstein, zurechtgehauen, um in eine Hand zu passen, die schon lange zu Staub zerfallen ist. Diese grüne Insel ist ein altes Land, geformt durch viele Jahrtausende. Krieg, Hunger und Religion haben ihr unauslöschlich ihre Stempel aufgedrückt, haben sich in das Bewußtsein der Menschen eingebrannt, legen sich wie Schatten über kultische Steine, sickern in den Torf als Brennstoff für künftige Zeiten. Es ist seine Heimat. Er lebt auf Boden, den seine Familie seit Generationen bewohnt. Sie hat sich im Laufe der Jahre immer weiter vergrößert, wurde von einer kleinen Einheit zu einem Clan, einem Stamm. Söhne haben Häuser gebaut und es im Schatten ihrer Väter mühsam zu einer eigenen Farm gebracht. Töchter haben Nachbarn geheiratet. Viele sind ins Exil gegangen, ausgezogen und zurückgekehrt, um dort zu sterben, wo sie einst das Licht der Welt erblickten. Seine Familie hat hier Wurzeln, die älter sind als die Festung oben auf dem Hügel. Sie hat das Land in Besitz genommen, ausgebeutet, gepflegt, verflucht, war auf ihm gefangen. Seine Eltern sind von diesem Land getötet worden. Eine Bombe, die für einen anderen bestimmt war, hat ihn zum Waisen gemacht. Eine Einkaufsfahrt in dem Wagen, den sein Vater gerade erst gekauft hatte, und auf den er so stolz war ... Jetzt lebt er bei seinen Großeltern, und die Erinnerung an seine Eltern wird langsam blasser. Er weiß, daß sich Schatten über die große Welt jenseits seiner eigenen kleinen Welt legen, und in den Diskussionen der Erwachsenen ist von Rechten, von Gleichheit die Rede: Er weiß aber nicht und niemand weiß das -, daß schon im nächsten Jahrzehnt seine ruhige Welt explodieren wird. Im Augenblick jedoch ist die Farm seiner Großeltern noch der Mittelpunkt seines Lebens. Sie besteht aus einer Ansammlung von weißverputzten Gebäuden, deren Strohdächer erst vor kurzer Zeit durch rotes Wellblech ersetzt wurden. Es gibt dort kleine vergessene Verschläge, die mit faszinierenden Gegenständen gefüllt sind — Strandgut vergangener Zeiten. Es gibt einsame Winkel, abgelegene Verstecke, überraschende Gerüche nach Zerfall, Mist, Dung und Heu, Gerüche von Mensch und Tier. Die Farm ist eine eigene Stadt im Kleinformat, die von den verschiedensten Einwohnern bevölkert wird: von den Feldmäusen in der Melkstube bis zu den Tauben in ihrem Schlag. Auf dem gepflasterten Hinterhof picken die Hühner nach ihrem Futter, geschmeidige Katzen räkeln sich tagsüber schläfrig und gehen nachts auf die Pirsch. Collies versuchen durch ihr Gebell den Eindruck von Betriebsamkeit zu erwecken. Pferde mit ruhigen Augen haben noch nicht begriffen, daß die Zeit des Schleppens und des Pflügens für sie vorbei ist und sie nur aus Sentimentalität noch ihr Gnadenbrot bekommen (obwohl das nie jemand zugeben würde). Auf den tiefer gelegenen Wiesen grasen Schafe, auf einer nahe gelegenen Koppel, die einmal eine Rasenfläche war, steht eine mürrische Ziege. Eine trächtige Sau suhlt sich fröhlich grunzend zwischen Eichen und Ahornbäumen, und ein
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