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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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sei doch immer mit dabei. Doch sie hatte ihn auch schon gerügt, weil er sich an Bord eines Raddampfers auf dem Mississippi völlig daneben benommen hatte. Da konnte er nur lachen. Durch ihre Träume reiste seine Frau letztlich allein, durch diese rumplige Geisterbahn. Warum sollte sich Paul um Träume scheren? War es nicht lauter Zinnober, was Iris da alles zusammenträumte?
    Vielleicht weil sein Schlaf nicht von Träumen mit Bleifüßen und Zeitlupe ungebührlich in die Länge gezogen wurde, musste Paul am Morgen vor seiner Frau aus dem Bett. Es war keine Strafe. Paul, der begeisterte Frühaufsteher, wachte vor dem ersten Hahn auf und freute sich auf den neuen Tag, auf das frühe Licht, das die letzten Pixel der Nacht aufrieb.

Der zweite Tag

PAUL WACHTE AUCH IN GENUA in aller Frühe auf. Er stand am Fenster, das Bett im Rücken, auf dem seine Frau, halb abgedeckt, noch träumte, und spähte die frühe Gasse aus. Die Sonne erreichte das Kopfsteinpflaster wohl nur an wenigen Tagen im Jahr. Das Dach des Fiats Bravo schimmerte dort unten, als wäre es schwarz. Eine verwilderte Katze fraß aus einem aufgerissenen Beutel und erinnerte ihn an die eigene, den verhätschelten Kater. Er sah ihn mit angelegten Ohren vor Emilys Laptop stehen. Die Tochter war zu Hause geblieben. Hoffentlich vergaß sie nicht, dem Kater die Tabletten gegen sein Asthma zu geben. Vielleicht fürchtete sich der Kater vor dem Laptop, weil er warme Luft ausblies und schnurrte. Emily machte sich über den Kater lustig. Sie war Sportlerin, eine ehrgeizige Kunstspringerin. Ligurien, hatte sie aufbegehrt, passt überhaupt nicht in meinen Terminkalender. Fahrt allein. Das Training lässt es nicht zu. Und die Eifersucht ihres Freundes, dachte Paul. Manchmal sah er sie im freien Fall, in einer blauen Leere, in einer Folge perfekt ausgeführter Sprungfiguren. Jedes Mal zerschellte das Bild, bevor sie ins Wasser eintauchte. Er bewunderte seine Tochter. Emily wusste punktgenau, was sie wollte. Selbstvergessen schaute Paul auf die Gasse hinunter. Gewiss stank sie nach Frittieröl, Fischköpfen und modrigem Abfall, der wegen eines Streiks der Müllabfuhr verrottete.
    Italien, Desorganisation, Selbstüberschätzung. Die italienischen Verhältnisse beschäftigten Paul, denn er liebte dieses angezählte Land. Iris beurteilte das alles mit mehr Verbundenheit. Sie würde nicht ausschließen, dass sich gleich um die Ecke ein herrlicher Bäckerladen befand und es nicht eklig war und stank, vielmehr der leckere Duft von frischem Brot die Gasse erfüllte. So war sie halt. Darum liebte er seine Frau. Auch wenn er ihren Optimismus nicht teilte. Italien, dachte er, wäre erträglicher, wenn man die Sprache nicht so gut verstehen und sprechen würde.
    Paul betrat das Bad.
    Er schenkte seinem Körper viel Beachtung. Die Utensilien, die er für die tägliche Wartung benötigte, besorgte Iris für ihn. Duschgel, Deodorant, Shampoo; sie liebte die Duftnote Rosenholz-Leder. Nur um sein Rasierzeug kümmerte sich Paul selbst.
    Insgesamt war Paul mit sich im Reinen. Alles bestens, witzelte er gern, alles noch gut im Schuss. Der alternde Körper wies leider schadhafte Stellen auf, Abnützungen und Fehlfarben, die nicht zu übersehen waren. Stolz war Paul auf seine Fertigkeiten als Klempnermeister. Er war geschickt und kompetent, in seinem Beruf machte ihm keiner etwas vor.
    Da Wohlgeruch nicht unbedingt zu den treuesten Begleitern der Männer seiner Altersgruppe zählte, rasierte er seit einiger Zeit die Achselhöhlen. Seiner Frau schien das nicht aufzufallen oder sie fand den richtigen Ton nicht für ihren Kommentar.
    Paul begutachtete sich nicht ohne Vorbehalte im Spiegel. Du hast dich gut gehalten, bestätigte ihm Iris wohlwollend; und Emily, die erbarmungslos aufrichtige Tochter ergänzte: für dein Alter. Paul wog fast gleich viel wie vor dreißig Jahren, hatte kaum Falten im Gesicht, sein Haar war immer noch voll und nicht ergraut, nur unter dem Kinn hing zu viel leere Haut, er sah es im Spiegel, brutal, er konnte das Gewebe mit der Hand greifen. Ein hässlicher Sack. Das könnte man richten. Emily, die menschliche Körper ganz sachlich betrachtete, man konnte sie trimmen und tunen, hatte ihn auf diese Idee gebracht. Blödsinn, hatte er abgewiegelt; doch es ließ ihn nicht kalt. Letztlich war der Körper eine Art Maschine. Paul wusste das, er hatte als junger Mann in einem erfolgreichen Ruderboot gesessen, und so wie er Organtransplantationen guthieß oder sich den Grauen
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