Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
Vom Netzwerk:
Paul, der die Straßenkarte doch stets griffbereit hielt, hatte es nicht bemerkt. Er hatte nicht aufgepasst. Iris verdrängte ihre schlimmste Vermutung. Eine Folge kleiner Fehler, deren Summe eine Irrfahrt ergab. Und weil das nicht wahr sein durfte, nutzte sie keine der Möglichkeiten zur Korrektur. Bot sich die Gelegenheit, konnte Iris sich nicht zu einer Kehrtwende entschließen. War sie entschlossen, fehlte die Gelegenheit. Bei Tempo Hundertzwanzig war es kompliziert, klar zu denken und sich sofort zu entscheiden. Sie schaffte das in ihrer momentanen Stimmung nicht. Der Kopf war nicht frei. Dabei kannte Iris die Gegend gewissermaßen auswendig, so oft schon hatte sie den Urlaub mit Paul auf der Insel Elba oder in Ligurien verbracht. An der beliebten Riviera. Im Apennin, der seine Auffaltung, laut Paul, dem Anprall der afrikanischen gegen die eurasische Platte verdankte. Solche Details beschäftigten ihren Mann. Italien, auch wenn Iris und Paul oft über seine Borniertheit lästerten, war unvergleichlich, ihr liebstes Reiseland.
    Iris hatte darauf gedrängt, sie waren rechtzeitig aufgebrochen, um ihren Wohnort, in einer ländlichen Ortschaft vor Zürich, noch bei Tageslicht zu erreichen. In La Spezia hatte Paul unbedingt die älteste, zum Schutz vor islamischen Überfällen auf einer Anhöhe der Stadt errichtete Befestigungsanlage besichtigen wollen. Auch für solch steinerne Ungetüme hatte Paul eine Schwäche, für ihre dicken Mauern, schmalen Schießscharten und tiefen Brunnen; genauso begeisterten ihn moderne Wasserwerke und Viadukte aus der Römerzeit.
    Nun waren sie in Rückstand geraten. Wenn Paul auf der Karte den Finger auf den Punkt legte, den sie auf der Heimreise um diese Zeit erreicht haben sollten, fehlte ein erhebliches Stück. Es war nicht mehr einzuholen. Iris machte sich nichts vor. Die Sonne stand schon tief. In Mailand erwartete sie der berüchtigte Stau an der Zahlstation. Danach drohte die Warteschlange beim Zoll von Chiasso.
    Das Hadern brachte nichts. Paul sollte endlich durch die Membran stoßen, die ihn hinderte, sich einzugestehen, dass ihm alles, was er da draußen erblickte, äußerst fremd vorkam. Er kannte diese Gegend nicht, er hatte sie mit der ihm bekannten verwechselt. Die Dörfer, Kirchtürme, Bergrücken, Baumgruppen, die er, ohne sich um Himmelsrichtungen und Namen zu kümmern, durchs Fenster fotografierte, waren Neuland für ihn. Wohin fuhr Iris eigentlich? Er klickte sich nochmals durch seine Aufnahmen durch. Sie waren, zugegeben, reizvoll, ja malerisch; aber was er fotografiert hatte, gehörte definitiv nicht zu ihrer Reiseroute. Sogar die Berge erhoben sich am falschen Ort, und auch die Küste tauchte nicht dort auf, wo Iris und Paul sie vermuteten.

IN GENUA FANDEN SIE SICH WIEDER und blieben in einer Gasse der verwinkelten Altstadt stecken. Später Abend. Die Gasse schien keinen Namen zu besitzen, nirgendwo entdeckten sie ein aufklärendes Schild. Bestimmt war es nicht die Via Garibaldi, dafür war der Ort zu düster, zu schmutzig. In dieser Umgebung durfte man kein Hotel mit wanzenfreien Betten erwarten und nicht auf ein Restaurant hoffen, das mehr anbot als Gerichte aus der Mikrowelle und Rotwein aus dem Kühlschrank.
    Iris begann plötzlich zu lachen.
    Paul lachte zwar auch gern, in der Regel. Im Moment aber nicht. Es wäre zu viel verlangt, müsste er jetzt auch noch über sich selbst lachen können. Er schob das Kinn vor, ging schneller, als wünschte er, Iris abzuschütteln. Wenn sie bloß den Mund hielte. Wenn sie weiterplapperte, wenn Iris jetzt auch noch theatralisch Mann, oh Mann sagte, rastete er aus und giftete sie an. Paul war verärgert, und das, wie er dachte, mit Berechtigung, obwohl auch er nicht aufgepasst hatte. Es erschien ihm alles ein Missverständnis zu sein, eine verfahrene Situation.
    Warum nur hatten sie sich von dem Unfall derart einschüchtern lassen? Trotz der Verspätung und ungeachtet der Abneigung, die Iris gegen lange Nachtfahrten hegte: Sie hätten durchstarten sollen, stur. Stattdessen hatten sie sich, als wären sie nicht ganz bei Sinnen, im labyrinthischen Genua festgebissen. Sie hätten es besser wissen müssen. Er hätte sich durchsetzen sollen. Sie hatten den Fiat Bravo stehen lassen, fragwürdig geparkt, und waren trotzig zu Fuß weitergegangen. Während der Hochsaison war die Suche nach einem annehmbaren Zimmer beinahe aussichtslos.
    Dort, rief Iris, siehst du es, Paul?
    Er sah es, natürlich, er war ja nicht blind, er sah es,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher