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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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Dinge. Seit er das Gepäck allein verstaute, war der Kofferraum groß genug.
    Iris war die Fahrerin. Auch diese Regelung hatte sich bewährt. Iris bewältigte lange Strecken ohne gefährliche Momente. Außerdem gehörte das Auto ihr, sie ließ Paul nicht gern ans Steuer. Er war beim Fahren nie ganz bei der Sache. Obwohl er seine Fahrkunst höher einschätzte, hielt Iris an ihrem Urteil fest. Paul, erklärte sie, fahre unkonzentriert, ja unachtsam. Je länger die Fahrt dauerte, umso weiter schien sich auch Paul in Gedanken zu entfernen.
    Als Begleiter schätzte Iris ihren Mann. Er mischte sich nie ein, kritisierte nicht ihre Fahrweise, Paul war entspannt, guckte sich die Gegend an und fotografierte. Das Fotografieren war Pauls Leidenschaft. Wenn Iris das erwähnte, fühlte er sich ertappt und spielte es herunter. Das technische Auge der Kamera, hielt er dagegen, sei viel besser als sein natürliches Auge, die Kamera mache die Aufnahme, sie sei ein Künstler. Und dann, als wäre er beweispflichtig, schloss er die Augen, bevor er den Auslöser betätigte. An den Fotos, die auf diese Weise entstanden, gefiel ihm die Unschärfe. Paul genoss jede Fahrt. Ganz anders als Iris früher, bevor er ihr das Steuer überlassen hatte. Als Pauls Begleiterin, auf dem Beifahrersitz seiner launischen Fahrweise ausgesetzt, hatte sie gelitten, ja Blut geschwitzt.
    Sie gingen, jeder für sich, zum Auto. Das Kopfsteinpflaster lag im Schatten. Niemand hielt sich in der Gasse auf. Neben dem Hoteleingang, zwischen struppigen Kübelpalmen, stand ein überquellender Abfallcontainer. Der neue, rote Fiat Bravo passte gar nicht in die öde Umgebung. Iris betätigte den Türöffner. Das Klicken war das einzige Geräusch da unten; weit oben trillerte ein munterer Kanarienvogel. Er drehte mächtig auf. Wie viel Kraft doch in dem kleinen Kehlkopf steckte. Der Käfig hing an einem Fensterhaken im dritten, im vierten Stock, den die Sonne schon erreichte.
    Sie saßen nebeneinander im Auto, jeder mit seinen eigenen Vorkehrungen beschäftigt. Paul legte die Jacke auf den Rücksitz. Iris stellte ihre Handtasche daneben. Sie überprüfte die Position der Spiegel und die Anzeigen, der Tank war noch zur Hälfte voll. Paul steckte eine Flasche Mineralwasser in die Halterung und schob eine leere Speicherkarte in die Kamera. Beide klinkten die Sicherheitsgurte fast gleichzeitig ein und zogen sie straff. Am Rückspiegel baumelte ein Bärchen. Das Geschenk von Emily, ihrer gemeinsamen Tochter. Sie hatten es unterlassen, Emily eine Ansichtskarte zu schreiben. Iris dachte zwar jeden Tag an ihre Kinder. An Tom, den Sohn aus erster Ehe, der dreißig war und mit einer Frau, die älter war als er, und deren Sohn zusammenlebte. Offenbar war Tom jetzt endlich glücklich. Wiederum war sie nicht nach Italien gefahren, um mit ihren Kindern Ferngespräche zu führen. Sie waren Halbgeschwister, sie liebte sie beide; aber Distanz tat auch gut, ein paar Tage Abstand. Wenn sie an Tom dachte, sah sie ihn mit Büchern oder als Maskottchen, als Kostümläufer. In der Verkleidung eines Clowns verteilte er in der Bahnhofstraße und auf dem Paradeplatz Flyer. Das war seit geraumer Zeit sein Job. Emily, die Sensible, ihre leicht erregbare und stürmische Tochter, betrachtete ohnehin jede SMS als Überwachungsversuch. Sie wollte nicht bemuttert werden. Auch Emily war ja kein Kind mehr. Sie gehörte zu den besten Turmspringerinnen des Landes. Unser Bewegungsgenie, hatte Tom sie früher gefoppt. Sie hörte solche Bemerkungen gern, obwohl sie die Nase kräuselte, mit dem Finger an die Stirn tippte und dem Bruder den Vogel zeigte. In Ligurien hatte Iris sich zwar nicht restlos von der Familie unabhängig gefühlt, aber ungebundener und befreit von den Bürden des Alltags, von den täglichen häuslichen Pflichten.
    Iris, die Hand schon am Zündschlüssel, merkte, dass Paul unruhig wurde, und hielt einen Moment inne.
    Paul räusperte sich, stopp.
    Sie ließ die Hand sinken.
    Ich habe etwas vergessen.
    Paul löste den Sicherheitsgurt, stieg wieder aus, ging ohne Eile zum Eingang des Hotels, er drehte sich nicht nach seiner Frau um. Iris schaute Paul nicht hinterher.

IRIS SCHLOSS DIE HÄNDE um das Lenkrad und nahm sich vor, nun nicht ungehalten mit den Fingern zu trommeln. Sie ignorierte die digitale Uhr. Der Stein ihres Rings, ein roter Turmalin, fiel ihr auf, der kostbare Stein hatte eine winzige Delle. Wo hatte sie den Ring angestoßen? Wann?
    Sie wartete, ruhig.
    Ohne Nachsicht und Klugheit
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