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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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hätte sie nicht ein halbes Leben lang mit diesem Mann zusammenbleiben können. Paul war in den letzten Jahren dünnhäutiger geworden, leicht reizbar. Er suchte dann Streit. Aber sie hatte sich auf die Streitvermeidung spezialisiert. Seine gelegentliche Vergesslichkeit verdross ihn selbst am meisten; falls ihn jemand für nachlässig oder zerstreut hielte, wäre es ihm peinlich.
    Was hatte Paul denn vergessen?
    Etwa seinen Hut?
    Wiederum hatte er ihn ja auch nicht vergessen. Er hatte ihn nur nicht aufgesetzt, und jetzt, mit Verzögerung, musste ihm das eingefallen sein. Plötzlich in den Sinn gekommen sein. Merkwürdig, Paul ging doch niemals ohne Hut aus dem Haus. Iris war sich nicht sicher, ob er das Hotel mit oder ohne Kopfbedeckung verlassen hatte. Sie könnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, schon gar nicht beschwören. Die Erinnerung hielt es in der Schwebe. Anscheinend hatte sie Pauls Gesicht mit Hut gespeichert und sah ihn auch dann so, wenn er den Hut gar nicht trug. Die für das Gewohnte zuständige Instanz in ihrem Kopf hatte das Bild automatisch ergänzt. Oder schaute Iris ihren Mann gar nicht mehr an? War das genaue Hingucken nicht wichtig, weil sie seine Gesichter und Bewegungen kannte? Verinnerlicht, schön gesagt, und unverblümt: weil es sie nicht mehr interessierte, schon lange nicht mehr. So wie Paul übersah, dass sie vom Friseur nach Hause kam. Sie könnte sich das Haar rabenschwarz färben, ihm fiele nichts auf. Sie könnte sich, wie eine ihrer Freundinnen, einer Oberlippenauffüllung unterziehen, und Paul nähme es nicht wahr. Im Rückspiegel prüfte Iris ihren Mund. Der war in Ordnung. Sie hatte es nicht nötig, sich die Oberlippe aufspritzen zu lassen. Sie wollte nicht einen Mund haben, der aussah, als hätte eine Biene in die Lippe gestochen. Das Rot, mit dem sie seit einiger Zeit ihre Lippen anmalte, zeichnete ihr Gesicht weicher und passte zu ihrem langen, nussbraunen Haar.
    Hinter ihrem Gesicht tauchte ein Mann im Rückspiegel des Fiats auf und näherte sich. Er telefonierte. Ein Hüne. Er presste sein Handy gegen ein Ohr, mit dem etwas nicht stimmte. Sie musterte ihn. Alles an ihm schien Übergröße zu haben. Zu ihrer Verblüffung blieb er neben dem Auto stehen. Nicht wegen Iris. Er hatte gar keine Sicht in ihrAuto. Sie erspähte im Außenspiegel nur einen Ausschnitt seines Körpers, oben fehlte der Kopf und unten ein Stück der Beine. Der Torso steckte das Handy in die Tasche seiner Hose, knöpfte, als befände er sich in einem öffentlichen Pissoir, den Hosenstall auf und begann, seelenruhig gegen das linke Hinterrad des Fiat Bravo zu pinkeln.
    Iris blickte weg, sie wollte das nicht sehen, sie hatte schon genug gesehen, schon viel zu viel davon hatte sie sehen müssen. Bleib gelassen. Schon wieder wurde ihr etwas Unmögliches abgefordert. Sie verabscheute diesen Mann. Am liebsten, ja, schnipp-schnapp. Sie war bestürzt, wie heftig sie das wünschte und zügelte sogleich ihren Unmut. Dabei wäre es befreiend, den Widerling mit der Hupe aufzuschrecken. Lass dich nicht provozieren, Iris, steige auf keinen Fall aus, redete sie mit sich selbst, der Mann ist gefährlich. Trotzig verschränkte Iris die Arme vor der Brust, sie wollte alles unverzagt durchstehen, sie musste es aushalten. Ihr Mund wurde schmal und fältelte sich, Iris wusste genau, wie das nun aussah, sie gefiel sich so gar nicht.
    Eine volltönende Stimme.
    Paul brüllte. Ihr Mann konnte, wenn er glaubte, im Recht zu sein, unangenehm laut werden. Er hatte seine Kamera in der Hand, fuchtelte mit den Armen, hielt kurz inne, als überprüfte er auf dem Display, dass der unverschämte Mensch dort keine Einbildung war, und strebte, den Hut, einen leichten Panamahut, auf dem Kopf, entschlossen auf ihn zu.
    Paul war groß, breitschultrig, ein Mannsbild, aber nicht mehr der Jüngste. Sein Gegenspieler ließ sich beim Pinkeln zunächst nicht stören, blieb auf den Strahl fokussiert, benutzte den Raddeckel als Zielscheibe.
    Iris hörte das Prasseln.
    Und öffnete die Tür.
    Sie kam schneller aus dem Auto, als sie das jemals getan hatte. Sie stand schon bei Paul. An seiner Seite. Sie hatte keine Wahl. Dabei war sie ganz hektisch. Sie wusste, wie ihr Mann tickte. Jetzt sah er rot. Iris sammelte sich, fiel ihm dann in den Arm. Sie musste ein Handgemenge verhindern. Urin war anstößig genug, unnötig, dass auch noch Blut floss.
    Er hat mein Auto angepinkelt, nicht dich.
    Halt dich da raus, blaffte er sie an.
    Paul war in seiner Empörung
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