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Vier Tage im August

Vier Tage im August

Titel: Vier Tage im August
Autoren: Silvio Blatter
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nicht fähig, Details zu berücksichtigen oder eine Gefahr zu erkennen. Er wog jetzt nichts mehr ab, Ende der Feinheiten. Ein Dickschädel. Das war doch kein Unterschied, Hose oder Reifen. Auto oder Mann. Haarspalterei. Er plusterte sich auf und ruderte mit den Armen, um seine Frau abzuschütteln; es war eine Kraftprobe. Im selben Maß, wie Iris darum kämpfte, ihren Mann zurückzuhalten, ihn vor dem Hünen und der eigenen Unbesonnenheit zu schützen, schien Paul gewillt, den widerwärtigen Pisser zu erwürgen.
    Den Kopf gesenkt, stürmte Paul Fontana auf den Gegner los, aber seine Fäuste schossen ins Leere, er selbst empfing einen Hieb, der ihn erschütterte. Die Verblüffung war stärker als der Schmerz, der Riese hatte ihn kalt auflaufen lassen. Es krachte nochmals.
    Das Gesicht eine Knautschzone.
    In seinem Blickfeld zersprangen die Bilder, es war, als hätte ihm der Typ Gel in die Augen gedrückt. Die Sinne, schwindend. Dem Gehirn wurde Sauerstoff vorenthalten. Die Ränder lösten sich auf. Paul kämpfte gegen den Untergang, und der Gedanke, seine Nase müsse nun im Krankenhaus gerichtet werden und die Oberlippe genäht, blieb hartnäckig in seinem Bewusstsein… und dann, während er sich sinnlos aufbäumte, war ihm, als sei er genötigt, das Geschehen durch eine fehlerhafte 3D-Brille zu beobachten und eine Unzahl von komplizierten Einzelheiten wahrzunehmen, Splitter, die in keinem Zusammenhang standen, aber Teile eines Ganzen waren, das, nun zerbrochen, wieder gekittet werden musste, so dass es unumgänglich sein würde, in Genua zu bleiben, und sie nochmals viel Zeit verloren in diesem unheilvollen Italien.
    Als er in die Knie ging, nahm er einen weiteren Treffer.
    Jochbein, Kiefer.
    Und ein Schnitt? Scharf über die Hände?
    Eine Klinge? Blitzte nicht ein Messer auf?
    Mussten auch seine Hände geflickt werden?
    Während Paul vornüberkippte, war ihm, aus seinen Händen sickere Blut, er konnte die Finger nicht mehr bewegen, und als Iris sich über ihn beugte, erkannte er sie nicht. In solche Augen hatte er noch nie geblickt, dieser Mund war ihm fremd; überdies sorgte er sich wegen ihrer Kleidung, ihre Hose, ihre Bluse, überall sein Blut, ihr Gesicht war von seinem Blut besudelt. Oder war es ihr Blut? Tropfte Blut aus Nase und Mund der Frau? Ihr Blut auf sein Hemd? Und warum war sie plötzlich nackt, warum sah Paul, unter knisternden Kurzschlüssen, bevor sein Gehirn die Fragerei einstellte und keine Gedanken mehr zu Ende denken mochte, hell schimmernde Brüste?
    Dann wurde ihm der Stecker herausgezogen.

EMILY BEFAND SICH ALLEIN ZU HAUSE . Sie stand auf dem Balanceboard, dem Wackelteller, wie ihre Mutter das heikle Gerät im Scherz genannt hatte, schulte ihr Gleichgewicht mit schwierigen Übungen und versuchte dabei, die Eltern anzurufen.
    Eine Trainingseinheit auf dem Balkon. Eigentlich war das nach Emilys Geschmack. Wären nur die Eltern nicht in Italien verschollen. Emily arbeitete unkonzentriert, war unzufrieden mit sich selbst und der Welt. Und sie war richtig sauer. Seit einer Stunde versuchte sie vergeblich, Iris und Paul zu erreichen. Typisch. Sie kamen nicht wie abgemacht nach Hause und schalteten obendrein das Handy aus. Es passte zu ihren Eltern, sie hielten sich nie an die Regeln.
    Wenn Emily sich ablenken ließ, warf das Balanceboard sie ab. Sie knurrte und stieg wieder auf. Sie wollte das Gerät beherrschen. Auf dem Balanceboard verbesserte Emily auch den Orientierungssinn und trainierte die Füße, mehr als zwanzig Muskeln. Unzufriedenheit war etwas Halbherziges und passte nicht zu ihr. Viel lieber wäre sie total glücklich oder total unglücklich gewesen. Aber das war sie nun einmal nicht.
    Nicht Schwarz, nicht Weiß, dafür Grau.
    Ein mittleres Grau.
    Emily war siebzehn Jahre alt.
    Ihr Blick schweifte über leere Balkonoasen und begrünte Trennwände. Die Sonnenschirme waren noch nicht aufgespannt worden. Die Nachbarn schliefen aus. Oder sie weilten schon in den Ferien. An manchen Tagen sah Emily niemanden auf der Straße, keine einzige Seele. Sogar die sonst monoton tickenden Sprinkleranlagen waren außer Betrieb. Emily hörte nur den Lärm der Flugzeuge, die in ihrer Steigphase über das Haus zogen, und jede halbe Stunde die hinter Reihenhäusern und Obstbäumen vorbeiziehende S-Bahn.
    Ein weiterer heißer Sommertag stand bevor. Bald würde der Tag zu zerfließen beginnen. Alles drohte zu zerfließen. Ausgenommen ihr Körper, er würde seine Spannkraft und Elastizität bewahren, seine
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