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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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Christiania, Juni 1985
    Am Ende des Kieswegs ließ sie Lilja aus der Hand. Sie sah dabei zu, wie ihre Schwester mit hastigen Schritten im Pavillon verschwand, dann die Glaswände entlang zu ihrem Klassenzimmer lief. Wie ein wilder Affe hüpfte die Schultasche auf ihrem Rücken.
    Sie ging durch die Tøjhusgade, vorbei an der Garnisonskirche und im kühlen Schatten des Straßenbauamts, bis sie auf dem Christianshavns Torv vor der Würstchenbude stand. Du bist meine erste Kundin, sagte der Mann, du bringst mir Glück. Sie bestellte ein Würstchen mit Brot und ohne Senf und legte zwei Kronenstücke auf die Glasplatte. Du musst warten, sagte der Mann, das Wasser ist nicht heiß genug. Petersens Wurstwagen, das stand auf einem glänzenden Schild über seinem Kopf geschrieben.
    Sie aß die Wurst im Gehen, so wie sie es bei den Erwachsenen gesehen hatte, ein bisschen geistesabwesend. Die Wurst war weich und schmeckte seltsam, aber besser als die Haferflocken, die ihre Mutter ihnen morgens aus der Müsliquetsche kurbelte. Sie rieselten auf den Teller, schmeckten nach Löschpapier und blieben hart, auch wenn sie längst in der Milchsuppe ertrunken waren.
    Wo der gelbe Bus der Linie acht in der Prinsessegade hielt, stieg sie durch das Loch im Bretterzaun, nahm den Weg zwischen den Wellblechwänden und schlich hinter den Hühnerstall von Preben. Er hatte ihn aus groben Holzbrettern und rostigen Metallstangen zusammengebaut. Alle wussten, dass er die Bretter mit einer Schubkarre von der Baustelle vor dem Außenministerium gestohlen hatte. Sie ging in die Hocke und lockte die Hühner mit Gluckslauten herbei. Sie kratzte kleine Steine aus der lehmigen Erde und warf sie durch das Gitternetz nach dem Hahn. Er war kleiner als seine Hennen. Er sandte ein wütendes Krähen in die Luft, rannte ein paar Mal im Kreis und zog sich in seinen Stall zurück. Bei einem Huhn weiß man nicht, was es sieht, wenn es einen anblickt, dachte sie. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Welt wohl aussähe, wenn einem die Augen links und rechts am Kopf säßen.
    Noch war ihr Quälgeist nicht befriedigt. An der niedrigen Steinmauer, die den Gemüsegarten ihrer Mutter umgab, hatte sich in der Nacht Regenwasser in den Spalten gesammelt und die Wege der Ameisen unterbrochen. Mit Zweigen und kleinen Kugeln, die sie aus Blättern knetete, half sie nach, die Laufwege zu blockieren. Alle Ameisen, die es wagten, die Barrikaden zu überrennen, zerquetschte sie mit einem Stock.
    Wieder fing es an zu regnen. Es war ein warmer Regen, doch als ihr das Wasser vom Zopf in den Rücken lief, ging sie um das Haus und hebelte das Fenster ihres Zimmers auf. Mit einem Sprung zog sie sich auf das Fensterbrett und kletterte hinein. Sie rollte sich ihr großblumiges Glockenkleid über den Kopf, faltete es einmal in der Mitte und noch einmal längs und legte es über den Sprossenstuhl. Es sah altmodisch aus, fand sie, mit seinen blauen Schleifen, und jetzt soll es vergammeln, nass wie es ist. Eine Zeitlang stand sie still da und wartete, aber im ganzen Haus war nichts zu hören.
    Sie trat vor den Kleiderschrank und öffnete ihn mit den richtigen Bewegungen, damit seine Tür nicht in den Scharnieren quietschte. Ganz vorn hing ihr rotes Lieblingskleid. Sie nahm es mit dem Kleiderbügel und legte es auf ihr Bett. Es war am Kragen und am Saum verschlissen, und der schmale Gürtel, der sich um die Taille winden sollte, war im Frühjahr verloren gegangen, als sie mit der Schulklasse einen Ausflug an den Badestrand der Bucht von Nyrup gemacht hatten. Wie schade, dachte sie. Sie nahm das Kleid vom Bügel und rollte es zu einer Schlange zusammen. Dann stopfte sie es in die unterste Schublade ihrer Kommode.
    Sie löste ihren Zopf und setzte sich aufs Bett. Zog ihre nassen Strümpfe aus und hob ihr linkes Bein an. Auf der Kniescheibe klebte ein Pflaster, seit sie vorgestern mit dem Fahrrad in der Kurve vor dem Totempfahl in den Staub gerutscht war. Das Pflaster war schwarz vor Dreck. Vorsichtig rüttelte sie es los.
    Sie ließ sich auf den Rücken fallen und warf ihre braune Wolldecke über sich. Sie schloss die Augen und fühlte mit der Zunge, ob irgendwo in ihrem Mund noch etwas vom Geschmack der Wurst übrig geblieben war.

I

W arten. Warten habe ich immer gekonnt. Habe nie vor dem erlaubten Tag Türen im Adventskalender aufgebogen, nie das Papier meiner Geburtstagsgeschenke zerfetzt. Ich habe wochenlang eine Gehirnerschütterung im Krankenbett auskuriert, so brav, so regungslos, dass
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