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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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war wie ein Splitter.
    Knut Giovanni Myrbäck hatte seine Heilige Mitte wieder.

M eine liebe Schwester,
    verzeih, es ist lang her, seit ich dir geschrieben habe. Ein Jahr bestimmt ist vergangen, aber wer weiß, ob meine Briefe dich erreichen, und zu erzählen gab es auch nichts. Aber jetzt.
    Ich habe diesen Bus in Stockholm bestiegen, gab meinen Fahrschein bei der Fahrerin ab und ging den Gang entlang bis in die letzte Reihe. Ich reagiere nicht auf die Blicke der Mitreisenden, die sich an meinem grün und blau geschlagenen Gesicht stören. Ich sehe schlimm aus, wie aber kann mich das betrüben?
    Es wird eine lange Reise werden, doch ich sitze bequem. Den Reißverschluss meiner Jacke habe ich aufgezogen. In der Tasche zu meinen Füßen steckt der Proviant. Sprudelwasser, Schokoladenkekse und eine Handvoll harter, hellroter Kirschen aus dem Garten der Lövgrens, danke schön. Eine von ihnen habe ich schon im Mund gehabt, erst gelutscht, dann vorsichtig auf ihr herumgekaut, frühlingssauer ist sie bis zum Schluss geblieben.
    Kauen kann ich nicht. Mein Schneidezahn wackelt, und ein Backenzahn fehlt, einer von diesen großen, mit denen man harte Brotrinde zerkaut. Er liegt im Gras unter den Kirsch bäumen der Lövgrens, bitte schön. Bei einem Schlag auf meine Wange ist er mir abhandengekommen. Er war es wert.
    Bevor ich unsere Insel verließ, habe ich eine Abschiedsrunde durch das Haus gedreht. Die anderen jagten verwirrt von einem Stock zum nächsten und quer durch alle Zimmer, während ich deine Schmetterlinge eingesammelt habe. Auf der Veranda und gleich vorn im Garten sind sie herumgesegelt, ein paar der Pfauenaugen hat es bis in die Brennnesseln geweht. Am frühen Morgen, die Sonne ging über Sandskär auf, habe ich sie vom Oberdeck der Fähre fliegen lassen. Jeden einzelnen von ihnen. Der Wind hat sie mit sich getragen. Sie alle sind mit ihren Pergamentflügeln auf dem Wasser gelandet, schaukelten auf ein paar Wellen mit und versanken dann. Ich weiß, du verzeihst mir. Denn was hat unsere Mutter uns beigebracht? Tränen helfen nicht weiter, erinnerst du? Sie helfen bloß zurück. Und da will niemand hin.
    Mein Herz geht mir leicht wie noch nie, aber zunächst muss ich den Sommer zum Vergessen nutzen. Manche meiner Erinnerungen sind wie eine Geschwulst, ich will sie loswerden.
    Es wird eine lange Reise, doch ich sitze bequem. Manchmal zieht Kohlrabigestank von den Papierfabriken in den Bus. Daran merke ich, dass wir schon weit im Norden sind.
    Ich bin verliebt, ich spüre ein Tier in meinem Bauch, das sich dort einen Bau gesucht hat, es rollt sich und dreht sich, manchmal beißt es.
    Als ich klein war, so klein wie du, hat unser Vater mir erklärt, dass die Welt ein Ort ist, von dem ich eines Tages restlos verschwinden werde. Nichts wird von mir bleiben außer ein bisschen Luft, denn unsere Seele setzt sich aus flüchtigen Atomen zusammen. Keine meiner Erinnerungen, keines meiner Gefühle wird mich überdauern. Puff! Ich habe ihm das lange abgenommen, obwohl er sonst immer nur Blödsinn hat erzählen können und in ihm nur Schwärze war bis an den fernsten Horizont, aber ich hatte das Gefühl, er meinte diese eine Sache wirklich ernst. Vielleicht ist er ja an dem Glauben an seine unnütze Vergänglichkeit verzweifelt. Ich werde ihm nie wieder auf den Leim gehen. Ich glaube ihm nicht.
    Die Liebe ist ein wundersamer, ein glückseliger Ort. In all dem feuchten Kladderadatsch, der in unserem Inneren herumschwappt, habe ich endlich jene Stelle gefunden, an der sie wohnt. Aber wer weiß? Sie ist ein schattenhaftes Wesen wie das Schicksal oder das Verhängnis, die Götter selbst sind ihr unterworfen.
    Die Frau im Gangplatz neben mir glaubt wohl, ich schlafe, aber ich blicke aus halb geschlossenen Augen auf die Landschaft und auf windschiefe Gartenzäune, auf Vorgärten, in denen Schaukelgerüste stehen, auf Schornsteine und zwei Türmchen mit Wetterfahnen, und denke an dein süßes Gesicht und wie es jetzt aussehen würde. Sind die Knopfaugen zu einem Paar schöner strahlender Perlen herangewachsen?
    Zwischendurch lege ich den Kopf in meine Hände und versuche zu weinen, aber meine Augen bleiben trocken.
    Erinnerst du dich an die schönsten Tage in deinem Leben? So hast du es immer erzählt: Mit dem Kopf voran bist du die große Rutsche vor unserem Haus runter, auch noch auf deinem Rücken, du Dösbaddel, und trotz einer Gehirnerschütterung haben sie dich im Krankenhaus von Söderhamn in der Mandelabteilung
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