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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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regelmäßig.
    Sie zog ihm einen Stoffknäuel aus dem Mund. Sein linkes Auge öffnete sich. Sein rechtes sah aus, als hätte jemand einen Pingpongball unter sein Lid geschoben, so dick war es geschwollen.
    In ihrem Rücken hörte sie ein Scheppern. Sie warf sich herum. Knut Giovanni Myrbäck hatte seinen Abstieg begonnen. Direkt über ihm hangelte sich Jana ab. Ihr verletztes Bein hing schlaff herab, und sobald sie mit dem gesunden Bein eine Sprosse nahm, erzitterte die Leiter. Das Holz, in dem das rostige Metallgestell verankert war, knirschte.
    Mit steifen Fingern befreite sie Holzapfel von seinen Fesseln und richtete ihn an den Schultern auf. Ein paar Schritte schleppte sie ihn, dann fielen sie schnaufend zusammen. Er erbrach sich. Von seinem Mundwinkel hing ein rötlichweißer Schleimfaden bis zum Boden.
    Es war Myrbäck, der ihr Holzapfel abnahm und ihn, der sich nach Luft japsend auf seine Schulter lehnte, vorwärtsschob. Neben ihnen humpelte Jana. Was sich wie ein Murmeln anhörte, waren Laute unterdrückten Schmerzes.
    Sassie sah ihre goldene Uhr neben dem toten Jukki im Gras liegen. Sie fragte sich, ob er das Aufschlagen noch auf seiner Haut gespürt hatte, ein letztes Fühlen auf dieser Welt. Sie wusste, es war dumm, die Uhr dort liegen zu lassen, aber um nichts in der Welt würde sie das Ding noch einmal anrühren.
    Der andere Blonde hatte auf sie gewartet.
    Er saß am Eingang zum Waldweg, gegen den Stamm einer Eiche gelehnt. Ein müder Wanderer bei der Rast, so sah er aus. Gleich würde er seine Waffe auf sie richten. Er würde sich rächen. An ihr zuerst. Doch er regte sich nicht.
    Sie trat einen Schritt vor.
    – Worauf wartest du?, rief sie in die Stille hinein.
    Der blonde Riese antwortete nicht.
    Unbewegt starrte sie auf seine Beine, die übereinandergeschlagen auf dem sandigen Boden ruhten, auf seine ausgebeulte Turnhose und sein schieferfarbenes T-Shirt, das über den Oberarmen spannte. Auf die Hände, die gefaltet in seinem Schoß lagen. Auf seine toten Augen, die in einem unmöglichen Winkel schräg zur Seite zu blicken schienen, auf einen Fremden, der dort vor dem grünen Kleinbus und dem Stapel mit Hölzern stand.
    Der Mann sah nicht bedrohlich aus, nicht groß, seine Arme hingen friedfertig an seinen Seiten herab, aber er hielt ein Gewehr.
    Er hat uns die ganze Zeitlang beobachtet, dachte sie. Unsere Flucht, unseren Aufstieg, meinen Sprung.
    Jetzt musterte er sie mit wachen und neugierigen Augen und einem großen Mund. Einem Kussmund.
    Ja, er war es. Er war jene Spukgestalt, dessen Dämonengesicht sie vor zwei Nächten durch eine Scheibe angestarrt hatte. Und natürlich war sie im mittsommernächtlichen Zwielicht einem Trugbild erlegen, einer Sinnestäuschung. Er hatte eine Nase. Eine ganz gewöhnliche Nase.
    Sie drehte sich, um Myrbäck und Holzapfel zu warnen, aber es war zu spät. Die beiden hatten den Zaun hinter sich gelassen, sich auf den Feldweg geschleppt und bogen gerade auf ihre Spur. Der Pagenkopf humpelte an ihrer Seite.
    – Hallo, sagte der Mann, und setzte sich in Bewegung. Sein halblanges, leicht lockiges Haar, das über einen kahlen Fleck auf seinem Schädel gekämmt war, geriet beim Gehen durcheinander. Er sah aufgeregt aus und alt. Der Schweiß sickerte ihm von Hals und Stirn.
    – Raschke?
    Myrbäcks Stimme klang, als würde er gerade Zeuge einer Auferstehung. Und genau das tat er ja auch, fiel ihr ein.

R aschke?
    Knut Giovanni Myrbäck war erschüttert bis in die fernsten Verästelungen seiner Nervenbahnen, auch seine Stimme klang wie das letzte Hauchen einer verderbten Seele. Einem Untoten begegnet man schließlich nicht alle Tage. Aber irgendwie habe ich doch immer geahnt, dachte er, dass mit Dirk Raschkes Tod etwas faul ist.
    Raschke lebte. Mit raumgreifenden Schritten kam er auf sie zu. Holzapfel, der schlaff gegen Myrbäcks Schulter lehnte, hatte in seinem Schattenreich aus Schmerz und Blindheit noch nichts von der Auferstehung des Werkstattkollegen mitbekommen.
    – Eine russische Tula, sagte Raschke, als er vor ihnen beiden zum Stehen kam. Schrotflinte, Kaliber zwölf Millimeter mit Kipplaufverschluss. Ein tolles Ding.
    Raschke schoss zweimal in die Luft. Er öffnete den Verschluss und kippte den Lauf nach vorne. Rauch stieg auf.
    – Wie gesagt. Tolles Ding. Er sah verrückt aus. Seine Augenlider zuckten.
    – Was soll diese Cowboynummer?, fragte Myrbäck. Und dann, weil es wichtiger war:
    – Warum lebst du?
    – Weil ich nie tot war. Mein Bruder ist tot. Michael
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