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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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sich auf den Rücken und tastete nach der Hufzange in ihrer Manteltasche. Sie hatte sich im Futter verhakt, und sie musste ein paar Mal an ihr rütteln, um sie freizubekommen. Das Eis um sie herum knisterte.
    Was machst du?, brüllte er. Er japste nach Luft. Seine Mütze fiel ihm vom Kopf und plumpste in das Wasser. Seine knallroten Finger rutschten hilflos über die Eiskante.
    Wenn jetzt die Möwen herbeifliegen, dachte sie, dann landen sie auf seinem nassen Haar und hacken ihm die Augen aus. Sie picken nach seinen Ohren und stochern in seiner Nase. Aber nicht einmal die Möwen trauen sich in dieser Nacht so weit hinaus aufs Eis.
    Mit einem Schwung schob sie sich an ihn heran. Sobald der Singsang des Eises verebbte, schlug sie mit der Zange auf die Kante am Rand des Loches. Sein Arm glitschte weg, sein Gesicht tauchte unter.
    Du bist nicht mein Vater, sagte sie, als er wieder auftauchte. Und du bist nicht Liljas Vater.
    Wieder schlug sie auf das Eis. Sie wusste immer ganz genau, wohin er greifen würde, um Halt zu suchen. Sie schlug und schlug. Es war wie an den Buden im Tivoli, dort, wo man mit dem Hammer die Hölzer treffen musste. Aber hier war sie besser. Viel besser. Sie war die Beste. Nur einmal nicht. Da traf sie seine Hand. Er riss die Augen auf. Sie waren groß wie Golfbälle. Ein brummendes Geräusch stieg aus seiner Kehle auf.
    Du bist nicht mein Vater.
    Das Wasser, in dem sein Mund, die Augen und endlich der ganze Kopf versanken, sah schwarz aus, so schwarz wie die Tinte, die sie in dem Koffer unter dem Bett ihrer Mutter gefunden hatte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, durch ein riesiges Glas voller Tinte zu schreiten. Durch eiskaltes Schwarz zu treiben, kein Oben, kein Unten, denn es gibt so viele Farben wie Sterne, und im Schwarz sind sie alle enthalten. Aber man sieht sie nicht. Da kann er noch so lange nach ihnen gucken. Wenn es sein muss, für ewig.

S o macht man das.
    Die Arme gereckt, die Knie beisammen, schnellte Sassie Linné empor, versank in der Leere, aber Seelenwut ersetzte ihr die Flügel. Sie ruderte eine kleine Unwucht aus, von einer Bö in ihre Seite geblasen, und schlug mit ihren nackten Füßen auf den Schultern des Mannes auf, der ihr seinen Namen nicht hatte verraten wollen.
    Seine Knochen krachten wie morsche Holzplanken und falteten sich wie ein billiger Regenschirm im Sturm, seinem ganzen Körper entwich ein Bellen. Kurz verharrten sie so in einem grotesken Standbild, der erdnahe Koloss und die luftgeborene Rachegöttin, bevor er sich bog, einknickte, brach, sie aber vornüberkippte, die Arme schützend über dem Kopf, und sanft fiel wie in die Beete im Gemüsegarten ihrer Mutter.
    Als sie ihre Augen aufschlug, sah sie auf einen Teppich aus Gräsern, den Tanz der Rispeln im Wind und in seine starren Augen, und sie verstand, dass sie ihm nicht mehr beim Sterben zusah. Der Tod hatte seinen Mund weit geöffnet. Die Haut seiner Wangen war kreidebleich, der Ansatz unter dem blondierten Schopf war kastanienbraun. Zu den Ohren hin hatte er bei der Rasur kleine Nester dunkler Bartstoppeln stehen lassen.
    Sie wollte sich wegrollen von ihm, um alles im Leben, so weit fort wie möglich, doch ihre Arme gehorchten ihr nicht, ihre Beine brachten kaum mehr als ein Zucken zustande. Das Erste, was sie von sich spürte, war ihr Magen, waren all die Innereien, die in ihrer Mitte brodelten wie eine Kugel aus Magma. Sie schrie einmal kurz auf, dann noch einmal, und erst als sie begriff, das der Schmerz in Wellen kam und wieder abebbte, dass er sie nicht überwältigen würde, holte sie Luft. Sie kam auf die Beine, strauchelte aber und fiel.
    Jetzt sah sie, dass der Hals des Mannes viel zu lang war, wie aus dem Rumpf hervorgezogen, und aus seiner Schulter ragte ein spitzes Knochenteil durch den Stoff seines Flanellhemdes. Am fürchterlichsten aber war, dass sein Bauch auf eine völlig verdrehte Weise hervorstand. Sein Kreuz war entzweigebrochen, als sie auf seinen Schultern aufgeschlagen war wie ein Stein aus dem Weltall.
    Wo steckte sein Freund? Warum kam er nicht, den Tod seines blonden Zwillings zu rächen?
    Mit einer schmerzenden Öde im Kopf humpelte sie zu jenem Paket, das dort eingeschnürt im Grase lag. Je näher sie Holzapfel kam, desto größer wurde ihre Angst.
    Er lag dort wie ein schlafendes Wickelkind, von Klebeband und Abschleppseilen und Tüchern an Hals und Kopf und Händen zur Regungslosigkeit verdammt.
    Er atmete. Seine Brust senkte und hob sich ruhig,
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