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Vorstadtkrokodile

Vorstadtkrokodile

Titel: Vorstadtkrokodile
Autoren: M von der Grün
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»Du traust dich ja doch nicht! Du Angsthase!«, rief Olaf, ihr Anführer. Und die Krokodiler riefen im Chor: »Traust dich nicht! Traust dich nicht!«
    Nur Maria, Olafs Schwester, dreizehn Jahre und damit ein Jahr jünger als ihr Bruder, hatte nicht mitgeschrien, sie hatte so viel Angst um Hannes, dass sie wegsah. Die neun Krokodiler standen in einem Halbkreis am Ende der Leiter, die senkrecht zehn Meter hoch zum Dach führte, und sahen gespannt zu, wie Hannes, den sie Milchstraße nannten, weil er so viele Sommersprossen im Gesicht hatte, langsam die Sprossen hochkletterte, um seine Mutprobe abzulegen. Die war Bedingung für die Aufnahme in die Krokodilbande.
    Hannes hatte Angst, das konnte man ihm ansehen, er war zudem nicht schwindelfrei, aber er wollte es den größeren Jungen beweisen, dass er als Zehnjähriger so viel Mut besaß wie sie, die alle schon diese Mutprobe abgelegt hatten.
    Hannes hing ängstlich an der verrosteten Feuerleiter und wagte nicht nach unten zu sehen.
    »Komm runter, du schaffst es ja doch nicht, du Schlappschwanz!«, rief Olaf wieder und die anderen Jungen lachten.
    Hannes tastete sich langsam und vorsichtig die wackelige Feuerleiter zum Dach hoch. Je höher er kletterte, desto
mehr schwankte die Leiter, denn ihre Verankerung war an mehreren Stellen aus der Wand gerissen. Einige Sprossen waren so verrostet, dass Gefahr bestand durchzubrechen, wenn sie belastet wurden. Hannes wagte nicht nach unten zu sehen, er sah nur nach oben, wo er sein Ziel vor Augen hatte.
    Endlich war Hannes am Dach angekommen. Er sah zum ersten Mal nach unten. Ihm wurde schwarz vor Augen, er machte sie sofort wieder zu, zehn Meter sind doch eine ganz schöne Höhe. Damit er nicht vor Angst aufschrie, presste er die Zähne aufeinander, so sehr, dass ihm die Kiefer schmerzten.
    Aber er hatte leider nur den ersten Teil der Mutprobe abgelegt, der zweite Teil bestand darin, dass er von der Leiter auf das Dach klettern und oben auf dem First beide Arme heben und »Krokodil« rufen musste, dann durfte er wieder herunterklettern.
    »Los! Weiter! Kletter doch auf das Dach«, rief Olaf.
    »Nur keine Angst haben, Milchstraße«, rief Frank.
    Maria sagte leise zu ihrem Bruder: »Lass ihn runterkommen. Er wird abstürzen.«
    Aber Hannes kletterte schon von der Leiter über die Dachrinne auf das Dach, legte sich dort auf den Bauch und kroch langsam zum First hoch, wobei er sich mit den Händen an den Dachziegeln hochzog und mit den Füßen, wenn er einen Halt gefunden hatte, abstützte. Das ging langsam, Zentimeter für Zentimeter nur kam er vorwärts, es war mühsam und kräfteraubend, er musste vorsichtig sein, denn im Laufe der Jahre waren viele Dachziegel
morsch geworden, verwittert, sodass seine Kletterei nicht ungefährlich war. Manchmal, wenn er glaubte einen Halt gefunden zu haben, riss ein Dachziegel unter seinen Händen weg und klatschte unten auf den Hof.
    Dann blieb Hannes vor Schreck liegen, ohne sich zu rühren.
    Endlich war er am First angekommen.
    Hannes keuchte, er ruhte sich ein paar Minuten auf dem Bauch liegend aus, dann setzte er sich vorsichtig auf, hob beide Arme und rief: »Krokodil! Krokodil! Ich hab es geschafft!«
    Die Krokodiler unten auf dem Hof riefen zurück: »Du bist aufgenommen! Hurra! Milchstraße, komm runter! Du bist aufgenommen!«
    Und Olaf rief noch: »Das hast du gut gemacht. Prima!«
    Aber seine Schwester, die neben ihm stand, sagte wieder leise: »Er wird bestimmt abstürzen.«
    »Dumme Ziege«, zischte ihr Olaf zu, »halt deine Klappe, was verstehst du denn schon davon.«
    Und Frank sagte zu ihr: »Du hast doch nicht raufklettern müssen, du darfst doch nur bei uns sein, weil Olaf dein Bruder ist.«
    Das alte Ziegeleigelände, auf dem sie standen und das seit Jahren verlassen lag und ihnen manchmal als Spielplatz diente – Tafeln warnten zwar vor dem Betreten des Geländes –, war etwa zwei Kilometer von der Papageiensiedlung entfernt, in der sie alle wohnten. Das Ziegeleigelände bot einen trostlosen Anblick, die Fensterscheiben im alten Bürogebäude waren längst zerbrochen, die
Mauern waren morsch, die Dächer löcherig, und wenn ein Sturm tobte oder ein schweres Gewitter, dann fielen Dachpfannen auf die Erde. Es war nicht ungefährlich in der Ziegelei zu spielen. Schon vor Jahren hätten die Gebäude abgerissen werden sollen, es hieß, auf dem Gelände werde ein Supermarkt errichtet, aber bislang war noch nichts passiert. Dass die Krokodiler da spielten, lag einfach daran, dass
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