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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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von ihm entfernt. In ihrer Deckung würde er sich davonschleichen. Langsam löste er seinen Rücken von der Wand.
    Noch auf halbem Weg hörte er das laute Schlagen einer Tür, dann ein aufgeregtes Rufen. Ohne seinem Entsetzen weiter Raum zu lassen, stürzte er sich zwischen die Sattelschlepper und rannte pfeilgerade in Richtung der Gleisanlagen. Das Werkzeug in seiner Sporttasche schlug ihm ins Kreuz, während er die Treppe zur Unterführung der Bahngleise mit waghalsigen Sprüngen nahm.
    Am Ende des Fußgängertunnels bremste er ab und blickte sich um. Zwei, vielleicht drei Sekunden Vorsprung hatte er herausgeholt. Er sah sie noch nicht, aber er hörte schon, wie seine Verfolger sich die Treppe zum Tunnel hinabwarfen.
    Keuchend erreichte Myrbäck den Eingang des Parks. Hier hatten, von ihm unbemerkt, die Renovierungsarbeiten am morschen Vereinsheim des lokalen Fußballvereins begonnen. Unsicher, welchen Weg er nehmen sollte, preschte er vorbei an Bauwagen, wich einer Anhängerkupplung aus, umkurvte das Fundament eines Baukrans, trat ins Leere und stürzte ab, schlug mit seiner linken Schläfe auf, diesen Schmerz bekam er noch mit, dann den Hieb, den seine Sporttasche ihm auf das rechte Ohr versetzte.
    Das geht so nicht, dachte er, als er erwachte, so nicht. Sein Schädel brannte, in seinem Becken glühten Drähte. Er blickte auf die Uhr. Zehn Minuten, vielleicht länger hatte er bewusstlos hier gelegen. Ächzend drehte er sich auf die Seite und sah sich um. Er war in einen Bauschacht gestürzt, vornüber gegen die Holzbohlenverschalung geprallt, zwischen Kabelsträngen aufgeschlagen, so wird es wohl geschehen sein. Während er seinen Unfall rekonstruierte, richtete er sich tastend auf. Zögernd setzte er einen Fuß vor den anderen. Seine Hose klebte nass an den Beinen. Ob er blutete, war im Dunkel nicht zu erkennen.
    Dort, wo der Schacht sachte anstieg, zog er sich an den Holzbohlen hoch, bis er über den Grubenrand blicken konnte. Wie im Schützengraben, dachte er, gleich pfeifen mir die Kugeln um die Ohren. Doch da war niemand, der eine Salve abfeuerte. Er stieg zu schnell aus der Grube, verlor dabei kurz die Balance, und schlich geduckt in Richtung der Lichter am Ende des Parks.
    Ab und an machte er im Nieselregen halt, atemlos, um sich das Angstzittern in seinen Beinen anzusehen.
    Als er in die Sternstraße einbog, kamen ihm die ersten klaren Gedanken: Die Männer wollten nicht mich. Sondern Holzapfel. Sie warteten vor seiner Wohnung und hielten mich für ihn. Was hatte Jan angestellt?
    Zuhause schliefen alle. Ed war nicht in seinem Zimmer, nur die Lavalampe brannte und warf einen Keil roten Lichts in den Flur. Die Lampe hatten sie ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt, ein Trost in finsterer Kindernacht. Seit seiner Einschulung fiel es ihm wieder schwer, ohne Licht oder Gesellschaft einzuschlafen. Wenn er aus seinen Angstträumen erwachte, schlich er sich in das Bett seiner Mutter.
    – Wo warst du, fragte ihn Maria, als er im dunklen Flur gegen sie stieß.
    – Im Kino.
    – Du stinkst, flüsterte sie schlaftrunken, freundlich klang es nicht. Du stinkst nach Popcorn und Schweiß.

Christiania, Juni 1985
    Als sie erwachte, strahlte das gelbe Muster der Tapete über ihrem Bett. Sonnenlicht schien durch das Fenster und vergoldete ihr Zimmer. Sie hörte fremde Stimmen und ein fremdes Lachen. Sie stand auf, ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Die Stimmen kamen aus dem Zimmer ihrer Mutter. Sie trat zwei Schritte vor, dann noch einen, so dass sie aus dem Dunkel des Korridors in das Zimmer schauen konnte. Ihre Mutter lag nackt auf ihrem Bett. Ein nackter Mann hatte seinen Kopf zwischen ihre Beine gelegt. Neben ihrer Mutter kniete eine nackte Frau mit einem Halstuch. Ein Mann mit einer blauen Brille stand mitten im Zimmer und sprach leise mit der Frau. Er war angezogen. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass ihre Mutter ohne Kleider dalag und stöhnte. Ein dritter Mann stand hinter Kameragestellen und einem riesigen Scheinwerfer. Alles, was sie von ihm sehen konnte, waren die dunklen Augen und ein dichter schwarzer Bart. Noch nie war das Zimmer so hell gewesen. Dort, wo die schwarzen Holzbalken die weißgetünchten Wände kreuzten, schwang ein Flaum von Spinnweben im Lüftungswind des Scheinwerfers. Sein Licht verlieh den winzigsten Dingen Schatten, den Wollfusseln und Haaren auf dem Boden, und es glitzerte der Kohlenstaub hinter dem Kamin, den ihre Mutter im Winter nicht anfeuern mochte. Sie sagte immer: Ich
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