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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Dirk van Versendaal
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seine Schulter. Auf der Rückbank lagen eine Taucherbrille und Schwimmflossen; ein Kleid, das nach Sommer aussah, unachtsam in die Ecke des Sitzes geworfen, gelbe Tupfer auf weißem Grund.
    Die Scheibe vor ihm beschlug. Mit jeder Minute, die er untätig hier saß, kondensierte eine weitere Schicht seiner Furcht auf dem Glas. Er atmete hastig. Er hatte Schiss.
    Um einen Geländewagen der Luxusklasse zu überwinden, bedarf es eines Überraschungsangriffs auf seine Elektronik. Er muss von allen Fronten gleichzeitig kommen, sonst stottert sich das Herz des Wagens zum Kammerflimmern, Schluss, Aus, akutes Koronarsyndrom, nur eine Spezialwerkstatt kann dann noch den Motor wiederbeleben.
    Wer sich einen Q7 aneignen will, muss also über grundlegende Kenntnisse im Verschlüsseln von Binärcodes verfügen. Myrbäck verstand nichts von diesen Dingen. Dafür aber Holzapfel. Der hatte ihm die Codefrequenzen per USB-Stick zugeschickt.
    Keine halbe Minute, dann fingen Laptop und Microreader den Code der Funkzündanlage ein und entschlüsselten ihn. Der Motor startete. Tadellos, sagte sich Myrbäck.
    Er setzte den Wagen zurück, wendete und rollte im Schritttempo auf die Ausfahrt zu. Der Schlagbaum knirschte, aber hielt stand. Es war der Pfosten samt Gehäuse, der schließlich dem Druck des Q7 nachgab, sich seitwärtsneigte, im Kippen sein Betonfundament aufriss und Myrbäck mit einem Krachen den Weg frei machte.
    Pfusch am Bau, murmelte er.

M eine Mutter war dreißig, als sie mit zwei Töchtern und schweren Koffern das Holzhaus über der Sägerei verließ. Mit Sack und Pack, sagt man da wohl, und im Wagen des Mannes, der in dem Haus neben uns wohnte und einen riesigen roten Saab besaß, fuhren wir an einem diesigen Sommertag über die Kreisstraße nach Sundsvall. Vor dem Bahnhof hielten wir an, der Mann wuchtete unser Gepäck vom Dach und küsste meine Mutter auf den Mund. Ein bisschen zu lang für einen Abschied. Zwei Tage später, im Sonnenschein und tausend Kilometer südlich, stiegen wir aus dem Zug. Meine Mutter war dreißig, als sie ihr erstes Leben hinter sich ließ und ein neues in Kopenhagen begann.
    Ich bin dreißig und traue mich nicht, mir ein Plastikband vom Bein zu reißen.
    Sassie Linné saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und hielt eine Kneifzange in Händen. Sie war ein elektronischer Kettenhäftling. Sie büßte ihre Strafe in den eigenen vier Wänden statt in einer Gefängniszelle. Sie trug ein Band mit einem Sender um ihr linkes Bein. Ein Band, das scheuerte, das kratzte. Wenn sie nachts wach lag, erwachte das Band zu Leben. Ein Schlauch pulsierender Muskeln auf ihrer Haut, so bildete sie sich ein, ein fetter Regenwurm in Todeskrämpfen. Ein Parasit.
    Nach dem Essen hatte sie sich mit dem Bauch auf ihr Bett geworfen, im Radio eine Diskussion über die Krise der Musikbranche gehört und war darüber eingeschlafen. Geräusche aus dem Badezimmer hatten sie geweckt, Heidi unter der Dusche, Heidi beim Zähneputzen. Es war nach Mitternacht, als sie in die Küche schlich und die Zange aus der Besenkammer holte.
    Drei Wochen hatte sie geschafft, vier Wochen lagen noch vor ihr. Neunundzwanzig Tage und Nächte der Haft, vollzogen in einer Zweieinhalbzimmerwohnung am Rande einer schläfrigen Kleinstadt. Dort, wo das schwarze Band oberhalb ihres Knöchels anlag, war ihr Bein mager und sehnig geworden. Nicht mehr lange und sie würde auf Stelzen gehen.
    Wenn sie jetzt die Zange anlegte? Vielleicht reichte ein einziges, kräftiges Zupacken. In der Alarmzentrale in Norrköping erklänge ein digitaler Alarm, eine Dudelsackmelodie. So hatte der Mann es ihr bei der Einweisung erklärt. Ein Kerl in Tweedanzug und Weste. Fünf Minuten später wäre sie zur Fahndung ausgeschrieben.
    Bis wohin würde sie flüchten können? Zwei Bushaltestellen weit? Mit dem Fahrrad runter zum Hafen? Auf die Fähre nach Gotland? Oder, kriegslistig, einfach in die Kleiderkisten auf dem Dachboden springen? Egal, man würde sie sogar in dem Mottenfraß finden und für zwei, drei Monate nach Färingsö schicken. Eine geschlossene Anstalt für fünfzig Frauen. Unter Neonleuchten würde sie Telefonkataloge stapeln, Jutebeu tel nähen, Erziehungsprogramme absolvieren, und über all dem würde sie sich an ihrem Hass erwärmen. Ich hasse Gefängnisse, ich hasse Suchttherapien, dachte sie. Ich hasse die Angsthäsin, die ich bin. In mir wohnt eine Lust zum Gehorsam, von der ich nicht wusste.
    Sie saß in der Mitte ihrer Bettcouch, hatte die Knie angezogen und
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