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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes
Autoren: Axel S. Meyer
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einzuholen.
    Ögir steckte den Trinkschlauch wieder ein und wankte zu den Seeleuten, um ihnen zu helfen. Der Krieger beobachtete, wie sie das Segel zusammenrollten, dann die Riemen einlegten und mit der Strömung zur Einfahrt ruderten.
    Schnell näherte sich das Schiff dem Durchlass. Dann glitt es wie von Geisterhand geschoben hindurch. Die Pfosten zogen vorbei wie Mahnmale.
    Jenseits der Einfahrt öffnete sich der Fjord zu einem weiten, flachen Gewässer. Das Fahrwasser war hier durch Haselstangen markiert, damit die Schiffe in den Untiefen nicht auf Grund liefen. Möwen, die vor dem Sturm Schutz gesucht hatten, erhoben sich in den regenverhangenen Himmel und stoben kreischend über die Schilfwiesen an den Ufern davon.
    Der Krieger richtete den Blick voraus in die Wand aus Regen und grauen Wolken, die ihm so undurchdringlich vorkam wie die Sicht auf seine eigene Zukunft.
    Er sah nur eins, den Tod.

2.
    Erling lehnte seinen Dreschflegel gegen die Scheunenwand und wischte sich die staubigen Hände an der Lederschürze ab.
    Am Langhaus sah der Bauer seine Kinder, den zweijährigen Godrek und die ein Jahr ältere Aefa, an einer großen Pfütze spielen. Beim Anblick der dreckverschmierten Kleinen musste Erling lächeln. Seine Frau Gunnlaug würde alle Hände voll zu tun haben, bis die Kleinen wieder sauber waren – und das war gut so. Es hatte nicht viel gefehlt, und Gunnlaug hätte niemals wieder die Kinder waschen, das Essen zubereiten oder andere Arbeiten auf dem Hof verrichten können.
    Erling schüttelte die sorgenvollen Gedanken an seine Frau ab.
    Als er sich gerade umdrehen wollte, um in die Scheune zu gehen und dem Knecht und den beiden Sklaven wieder beim Dreschen zu helfen, ließ ihn etwas innehalten.
    Auf einem der Hügel jenseits des Hofzauns glaubte er, etwas gesehen zu haben.
    Erling beschattete seine Augen mit der rechten Hand, um im Gegenlicht der tief stehenden Abendsonne etwas erkennen zu können. Tatsächlich! Er hatte sich nicht getäuscht.
    Vor der roten Abendsonne zeichneten sich jetzt deutlich die Umrisse mehrerer Männer und Pferde ab. Ein halbes Dutzend Reiter waren es, die die Anhöhe herunterkamen und geradewegs auf den Hof zuhielten. Als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten, sah Erling etwas, das ihm einen Schauer über den Rücken trieb.
    Die Reiter trugen lange Mäntel, und die Mäntel waren rot gefärbt. Blutrot.
    Kalte Angst ergriff Erling. Schnell nahm er den Dreschflegel, dessen Stäbe mit gegerbten Aalhäuten zusammengehalten wurden. Mit beiden Händen hielt er den Flegel vor sich wie eine Waffe. Eine Waffe? Es war lächerlich. Er wusste genau, dass er damit nichts würde ausrichten können. Dennoch fiel ihm nichts anderes ein.
    Er drehte sich zum Haus um. Die Kinder matschten noch immer in der Pfütze. Vor der geschlossenen Tür pickten Hühner nach Körnern. Die alte Ziege hob den Kopf aus dem Gras und stieß einen meckernden Laut aus.
    Gedanken rasten durch Erlings Kopf. Es blieb keine Zeit mehr, die Kinder zu verstecken. Dennoch musste er versuchen, sie zu retten. Schnell setzte er sich in Bewegung und lief am Weidenzaun entlang in ihre Richtung.
    «Aefa! Godrek!», rief er. «Ins Haus mit euch! Schnell!»
    Als sie die Stimme ihres Vaters hörten, unterbrachen sie ihr Spiel und schauten zu ihm hinüber. Godrek grinste breit. Er hatte sich gerade eine Handvoll Dreck in den Mund gestopft.
    «Ins Haus mit euch!», rief Erling im Laufen. «Sofort! Verschwindet!»
    Die Tür des Langhauses öffnete sich, und die Magd kam heraus, gefolgt von Gunnlaug, die sich humpelnd auf einen Stock stützte.
    «Was schreist du so?», wollte Gunnlaug wissen.
    Erling war nur noch zwanzig Schritt vom Haus entfernt.
    «Bringt endlich die Kinder rein!», rief er.
    Doch Gunnlaug und die Magd reagierten nicht, sondern schauten Erling nur fragend an.
    Aefa begann zu weinen, als sie die aufgebrachte Stimme ihres Vaters hörte. Dann bemerkten auch die Frauen die Reiter. Sofort packten sie die Kinder, zogen sie ins Haus und schlossen die Tür mit einem Knall. Erling, der inzwischen die Pfütze erreicht hatte, hörte, wie der Riegel von innen vorgeschoben wurde.
    Er drehte sich zum Hoftor um. In vollem Galopp näherten sich die Reiter auf dem Weg, der vom Hof aus am Hügel vorbeiführte. Einige Meilen weiter westlich mündete er schließlich in den Heerweg, der durch die ganze Mark verlief und das dänische Reich mit der sächsischen Hammaburg verband.
    Erling atmete durch, dann ging er den Reitern entgegen.
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