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Das Katastrophenprinzip.

Das Katastrophenprinzip.

Titel: Das Katastrophenprinzip.
Autoren: Stanislaw Lem
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einen Bereich der Vernichtung geriet; das Leben ist entstanden, weil die Erde den Bereich verließ; der Mensch ist entstanden, weil während der folgenden Jahrmilliarde die Vernichtung erneut gegen die Erde wütete.
    Einstein, der sich dem Indeterminismus der Quantenmechanik beharrlich widersetzte, hat einmal geäußert, daß »Gott nichtmit der Welt würfelt«. Er wollte damit sagen, daß nicht der Zufall die atomaren Phänomene lenken könne. Es stellte sich jedoch heraus, daß Gott tatsächlich mit der Welt Würfel spielt, und zwar nicht nur auf der Ebene der Atome, sondern auch auf der Ebene der Galaxien, Sterne und Planeten, bezüglich der Anfänge des Lebens und der im Rahmen des Lebens entstehenden vernunftbegabten Wesen. Es zeigte sich, daß wir unsere Existenz sowohl solchen Katastrophen verdanken, die »am richtigen Ort und zur rechten Zeit« eintraten, als auch solchen, zu denen es in anderen Epochen und an anderen Orten nicht gekommen ist. Wir wurden geboren, nachdem wir mit der Geschichte unseres Sterns, unseres Planeten, der Biogenese und der Evolution zahlreiche Nadelöhre passiert hatten, und man kann daher die zehn Milliarden Jahre, welche zwischen der Entstehung der protosolaren Gaswolke und der Entstehung des Homo sapiens liegen, mit einem gigantischen Slalomlauf vergleichen, bei dem nicht ein einziges Tor ausgelassen wurde. Wir wissen inzwischen, daß es viele solcher »Tore« gegeben hat und daß jedesHerausfallen aus der Bahn die Entstehung des Menschen unmöglich gemacht hätte, aber wir wissen nicht, wie »breit« diese Bahn mit ihren Kurven und Toren war – mit anderen Worten: Wie groß die Wahrscheinlichkeit eines »korrekten Laufs« war, dessen Ziel die Anthropogenese bildete.
    Die Welt wird sich somit nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen des kommenden Jahrhunderts als eine Häufung von zufälligen , zugleich schöpferischen und zerstörerischen Katastrophen herausstellen, wobei allerdings nur diese Häufung zufällig war, die einzelnen Katastrophen aber den strengen Gesetzen der Physik unterlagen.

I
    Das Roulettespiel beruht auf der Regel, daß die überwältigende Mehrheit der Spieler verliert. Wäre es anders, dann müßte jedes Spielcasino wie das in Monte Carlo binnen kurzem bankrott machen. Ein Spieler, der den Spieltisch mit einem Gewinn verläßt, ist die Ausnahme von der Regel. Einer, der ziemlich häufig gewinnt, ist eine seltene Ausnahme, und ein Spieler, der ein Vermögen macht, weil die Roulettekugel fast jedesmal die von ihm gesetzte Nummer trifft, ist schon eine außergewöhnliche Ausnahme, ein unheimlicher Glückspilz, über den die Zeitungen berichten.
    Eine Gewinnsträhne ist auf keinen Fall ein Verdienst des Spielers, denn eine Taktik, auf bestimmte Nummern zu setzen, so daß man garantiert gewinnt, gibt es nicht. Das Roulette ist eine Zufallsapparatur, und das heißt, daß seine Endzustände sich nicht mit Gewißheit vorhersehen lassen. Weil die Kugelimmer bei einer der 36 Nummern stehenbleibt, hat der Spieler bei jedem Spiel eine Gewinnchance von 1 : 36. Wer nacheinander auf zwei Nummern gesetzt hat und beide Male gewinnt, hat am Anfang für den doppelten Gewinn eine Chance von 1 : 1296 gehabt, denn bei Zufallsereignissen, die voneinander unabhängig sind (wie eben beim Roulette), muß man die Wahrscheinlichkeiten miteinander multiplizieren. Die Chance, daß jemand dreimal hintereinander gewinnt, beträgt 1 : 46 656. Das ist eine sehr kleine, aber berechenbare Chance, denn die Anzahl der Endzustände ist bei jedem Spiel die gleiche: 36. Wollten wir hingegen die Chancen eines Spielers unter Berücksichtigung von Nebenerscheinungen (ein Erdbeben, ein Bombenanschlag, der Tod des Spielers durch einen Herzanfall usw.) berechnen, so erweist sich das als unmöglich. Ähnlich verhält es sich, wenn jemand unter Artilleriebeschuß auf einer Wiese Blumen pflückt und mit einem Strauß in der Hand unversehrt nach Hause zurückkehrt; seine Errettung läßt sich ebenfalls nicht mit Hilfe der Statistik erfassen, obwohl die Unberechenbarkeit– und damit die Unvorhersehbarkeit dieses Ereignisses – nichts mit der Unvorhersehbarkeit zu tun hat, die für Quanten- und atomare Phänomene charakteristisch ist. Das Schicksal von Blumenpflückern unter Beschuß ließe sich nur dann statistisch erfassen, wenn es sich um sehr viele Pflücker handeln würde und darüber hinaus die statistische Verteilung der Blumen auf der Wiese, die für das Pflücken benötigte Zeit und ferner die
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