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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind
Autoren: Jean Webster
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Steintor, Worcester, Massachusetts,
    27. Dezember.

    Liebe Judy!
    Dein Brief ist da. Ich habe ihn zweimal gelesen — und bin betroffen. Verstehe ich richtig, daß Jervis Dir die Verwandlung des John-Grier-Heims in ein Musterinstitut zu Weihnachten geschenkt hat, und daß Du mich ausersehen hast, das Geld dafür auszugeben? Mich — ich, Sallie McBride, als Vorsteher eines Waisenhauses! Meine lieben Leute, habt Ihr den Verstand verloren oder habt Ihr Euch dem Genuß des Opiums ergeben, und dies ist das Delirium zweier Fieberphantasien? Ich bin genau so geeignet, die Sorge um hundert Kinder zu übernehmen wie Kurator eines Zoo zu werden.
    Und als Köder bietest Du mir einen interessanten schottischen Doktor an? Meine liebe Judy — — und ebenso: mein lieber Jervis — — ich durchschaue Euch! Ich weiß genau, was für eine Familienkonferenz am Pendletonschen Kamin abgehalten wurde. „Ist es nicht ein Jammer, daß Sallie, seit sie mit dem College fertig ist, nichts mehr geleistet hat? Sie sollte etwas Nützliches unternehmen, statt ihre Zeit in der nichtssagenden Geselligkeit von Worcester zu vergeuden. Außerdem (Jervis spricht) beginnt sie sich für den verdammten jungen Hallock zu interessieren; er ist zu schön, zu anziehend, zu labil; ich habe noch nie etwas für Politiker übrig gehabt. Wir müssen sie mit einer packenden und erhebenden Beschäftigung ablenken, bis die Gefahr vorbei ist. Ha! Ich weiß was! Wir werden ihr die Leitung des John-Grier-Heims geben.“
    Oh, ich höre ihn so genau, als wenn ich dort wäre! Bei meinem letzten Besuch in Eurem herzerfreuenden Haushalt hatten Jervis und ich eine sehr ernste Unterredung betreifend: 1. die Ehe, 2. die billigen Ideale von Politikern, 3. das frivole unnütze Leben, das Damen der Gesellschaft führen.
    Bitte, sage Deinem moralischen Gemahl, daß ich mir seine Worte sehr zu Herzen genommen habe und daß ich seit meiner Rückkehr nach Worcester allwöchentlich einen Nachmittag damit verbringe, den Insassen des Frauenasyls für Trunksüchtige Gedichte vorzulesen. Mein Leben ist nicht so zwecklos, wie es scheint.
    Laßt Euch auch versichern, daß der Politiker gar nicht so schnell droht; und daß er, auf alle Fälle — ein sehr begehrenswerter Politiker ist, auch wenn seine Ansichten über Zölle und Steuern und Gewerkschaften nicht genau mit denen von Jervis übereinstimmen.
    Euer Wunsch, mein Leben dem öffentlichen Wohl zu widmen, ist geradezu süß, aber Ihr solltet auch an die Anstalt denken. Besitzt Ihr kein Mitleid für die armen, schutzlosen kleinen Waisenkinder?
    Ich jedenfalls besitze es, auch wenn es Euch fehlt, und mit ergebenstem Bespekt lehne ich die Stellung ab, die Ihr anbietet.
    Ich werde dagegen entzückt sein, Eure Einladung nach New York anzunehmen, muß aber gestehen, daß ich die Liste der Vergnüglichkeiten, die Ihr plant, nicht sehr aufregend finde.
    Bitte setzt an Stelle des New Yorker Waisenhauses und des Findlings-Hospitals lieber ein paar Opern, Theaterbesuche und ein oder zwei Diners. Ich habe zwei neue Abendkleider und einen Mantel aus Blau und Gold mit weißem Pelzkragen. Ich will sie sofort einpacken. Telegrafiert also schnell, falls Ihr mich nicht meinetwegen sehen wollt, sondern nur als Nachfolgerin von Mrs. Lippett.

    Wie immer Eure gänzlich frivole und dies auch zu bleiben beabsichtigende
    Sallie McBride.
    PS. Eure Einladung trifft sich besonders gut. Ein charmanter junger Politiker namens Gordon Hallock wird nächste Woche in New York sein. Ich bin sicher, daß Ihr ihn mögen werdet, wenn Ihr ihn besser kennt.
    2. PS. Sallie auf dem Nachmittagsspaziergang, so wie Judy sie gerne sehen möchte:

    Ich frage Euch noch einmal: Seid Ihr beide denn verrückt geworden?

    John-Grier-Heim,
    15. Februar.
    Liebe Judy!
    Bei einem Schneesturm sind wir gestern abend um 11 Uhr angekommen, Singapur und Jane und ich. Es scheint nicht üblich zu sein, daß Vorsteherinnen eine Zofe und chinesische Chows mitbringen. Der Nachtwächter und die Haushälterin, die aufgeblieben waren um mich zu empfangen, waren sehr aufgeregt. Sie hatten nie so etwas wie Sing gesehen und glaubten, ich wolle einen Wolf in die Herde einschmuggeln. Ich versicherte ihnen, daß Singapur nur ein Hund sei - und der Wächter wagte, nachdem er die schwarze Zunge studiert hatte, einen Witz. Er wollte wissen, ob ich ihn mit Schwarzbeertorte füttere. Es war schwierig, für meine Familie Unterkunft zu finden. Der arme Sing wurde winselnd in eine fremde Holzlege gezerrt und
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