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Das Katastrophenprinzip.

Das Katastrophenprinzip.

Titel: Das Katastrophenprinzip.
Autoren: Stanislaw Lem
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Katastrophenaufgetreten. Ein Schüler Cuviers, d’Orbigny, hat diese Theorie um die Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt; ihm zufolge soll das organische Leben auf der Erde mehrfach untergegangen und in aufeinanderfolgenden Schöpfungsakten wiedererstanden sein. Diese Verknüpfung von Katastrophen- und Schöpfungstheorie wurde durch Darwins Theorie zu Grabe getragen. Das war jedoch ein vorzeitiges Begräbnis. Katastrophen von allergrößtem, nämlich kosmischem Ausmaß sind eine unerläßliche Bedingung für die Evolution der Sterne und des Lebens. Erst der menschliche Geist hat die Alternative »entweder Zerstörung oder Schöpfung« aufgestellt und sie seit Anbeginn unserer Geschichte der Welt übergestülpt. Daß Zerstörung und Schöpfung einander kategorisch ausschließen, war für den Menschen eine Selbstverständlichkeit, vermutlich seit er begriffen hatte, daß er sterblich ist, und seinen eigenen Tod als Gegensatz zu seinem Lebenswillen empfand. Dieser Gegensatz liegt sämtlichen Kulturen zugrunde, und man findet ihn in den ältesten Mythen, Schöpfungslegenden und religiösen Glaubensvorstellungenebenso wie in der einige zehntausend Jahre später entstandenen Wissenschaft. Der Glaube hat ebenso wie die Wissenschaft die sichtbare Welt mit Eigenschaften ausgestattet, welche den blinden, unberechenbaren Zufall als Urheber allen Geschehens aus ihr verdrängen. Der Kampf des Guten mit dem Bösen, der in allen Religionen vorkommt, endet nicht in allen mit dem Triumph des Guten, aber er bestimmt die – und sei es als Verhängnis – erkennbare Ordnung des Daseins. Die Ordnung aller Dinge ist das Fundament sowohl des Sakralen wie des Profanen. Deshalb ist in keiner der historischen Religionen jemals der Zufall als höchste Instanz alles Seienden aufgetaucht, und deshalb auch hat die Wissenschaft sich so lange gesträubt, die ebenso schöpferische wie unberechenbare Rolle des Zufalls bei der Gestaltung der Wirklichkeit anzuerkennen. *
    Die menschlichen Religionen lassen sich grob einteilen in eher »tröstende« und solche, die lediglich die vorgefundene Welt»ordnen«. Die ersteren verheißen Belohnung, Erlösung und Rechenschaft über Sünden und Verdienste, gekrönt durch eine letztendliche Gerechtigkeit im Jenseits, sie fügen also der ach so unvollkommenen Welt eine vollkommene Fortsetzung im Jenseits an. Vermutlich ist es gerade diese Befriedigung unserer Ansprüche gegen die Welt, der diese Religionen ihr jahrhundertelanges Fortbestehen und die Erstarrung einer in Generationen gefestigten Dogmatik verdanken.
    Statt Trost und der Verheißung göttlicher Gerechtigkeit in einer vollkommen geordneten Ewigkeit (denn was man auch immer über das Paradies und über die Erlösung sagen mag, es gibt dort nicht eine Spur von Zufall: niemand wandert aufgrund eines göttlichen Irrtums oder einer Unachtsamkeit der Vorsehung in die Hölle, und es gerät auch niemand in posthume Bedrängnis, weil er durch irgendeinen Fehler nicht ins Nirwana gelassen wird) haben die inzwischen erloschenen Mythen eine Ordnung vermittelt, die oft grausam, aber notwendig war, also gleichfalls nicht einem Lotteriespiel glich.
    Der Zweck aller Kultur war und ist es, jegliche Willkür, jeglichen Zufall im Glanze des Wohlwollens oder zumindest der Notwendigkeit erscheinen zu lassen. Das ist der gemeinsame Nenner aller Kulturen, die Quelle der »Normalisierung« des Verhaltens in Ritualen, in allen Geboten und in jedem Tabu: Überall soll alles einem einzigen Maßstab gehorchen. Das Zufällige haben die Kulturen in kleinen vorsichtigen Dosen in sich aufgenommen – in Gestalt von Spielen und Vergnügungen, zum Zweck der Unterhaltung. Als Spiel oder Lotterie gezähmt und gebändigt, hat der Zufall aufgehört, eine berückende und gefährliche Kategorie zu sein. Wir spielen in der Lotterie, weil wir spielen möchten. Niemand zwingt uns dazu. Der gläubige Mensch sieht es ebenfalls als Zufall an, wenn ihm ein Glas zerbricht oder eine Wespe ihn sticht, aber den Tod führt er nicht auf den Zufall zurück; unbewußt scheint er zu glauben, daß Gottes Allmacht und Allwissenheit den Zufällen nur eine untergeordnete Rolle zuweist. Die Wissenschaft hat den Zufall als Effekt einer einstweilen noch unvollständigen Erkenntnis aufgefaßt, alsErgebnis unserer Unwissenheit, die durch weitere Entdeckungen beseitigt werden würde. Das ist kein Scherz; Einstein scherzte durchaus nicht, als er sagte: »Der Herrgott würfelt nicht«, denn: »He is
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