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Das Katastrophenprinzip.

Das Katastrophenprinzip.

Titel: Das Katastrophenprinzip.
Autoren: Stanislaw Lem
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der biblischen Plagen: Der Tag wurde zur Nacht, und diese Dunkelheit hielt ungefähr zwei Jahre an. Nicht nur, daß die Sonne von der gesamten Erdoberfläche aus nicht mehr zu sehen war, sondern die Strahlung, die dennoch durchdrang, lieferte ein schwächeresLicht als der Vollmond. Alle großen Tiere, die ein Tagleben führten, kamen um, während kleine, rattenähnliche Säugetiere, die an die nächtliche Futtersuche angepaßt waren, erhalten blieben. Aus diesen Überresten des großen Tiersterbens sind im Tertiär neue Gattungen hervorgegangen, darunter auch jene, die in der Anthropogenese mündete. Die herrschende Dunkelheit schnitt die Erde von den solaren Energieströmen ab und vernichtete die Mehrheit der Grünpflanzen, da sie die Photosynthese unterband. Auch eine Vielzahl von Algen ist zugrunde gegangen. Auf weitere Einzelheiten können wir jedoch nicht eingehen.
    Wir übergehen sie, weil der Mechanismus und die Folgen der Katastrophe zwar komplizierter waren als hier dargestellt, die Dimensionen der Katastrophe aber dieser Darstellung entsprechen.
    Die Bilanz sieht folgendermaßen aus. Aus der bis zum Mesozoikum ausdifferenzierten Erbmasse konnte der Mensch nicht hervorgehen, weil diese Masse als Kapital in Gattungen angelegt war, die nicht zur Anthropogenese fähig waren. Die Investition war –wie übrigens stets in der Evolution – nicht rückgängig zu machen. Dieses Kapital verfiel, doch aus den über die Erde verstreuten, erhalten gebliebenen Resten von Leben begann sich ein neues zu bilden. Dieses Kapital vermehrte sich dann bis hin zur Entstehung der Hominiden und Anthropoiden.
    Wäre die gewaltige Investition der Evolution in die Thecodontia, Saurischia, Ornithischia, diese Dinosaurier, aber auch in die Rhamphorhynoidea und die Pterodactyloidea nicht vor 65 Millionen Jahren mit einem großen Bankrott zu Ende gegangen, dann würden nicht die Säugetiere unseren Planeten beherrschen. Unsere Entstehung verdanken wir jener Katastrophe. Wir sind entstanden und haben uns zu Milliarden vermehrt, weil Milliarden anderer Wesen der Vernichtung anheimfielen. Eben dies steckt in den Worten: »The World as Holocaust«. Die Suche der Wissenschaft nach Indizien hat jedoch lediglich zu der Erkenntnis geführt, daß unsere Gattung einen zufälligen Urheber hat, und zwar einen indirekten, wenngleich notwendigen Urheber. Schließlich hat nicht der Meteor unsgeschaffen – er hat lediglich den Weg frei gemacht, als er durch massenhafte Vernichtung die Erde veröden ließ und damit Platz schuf für die folgenden Versuche der Evolution. Ob ohne die Meteoritenkatastrophe die Chance bestanden hätte, daß auf der Erde eine andere, nicht menschliche, nicht anthropoidale Form der Vernunft aufgetaucht wäre, bleibt eine offene Frage.

VI
    Dort, wo es niemanden gibt – und damit auch keine Gefühle, weder freundliche noch feindselige, weder Liebe noch Böswilligkeit –, dort gibt es auch keine Absichten; da er weder eine Person noch die Schöpfung einer Person ist, kann man dem Kosmos absichtliche Parteilichkeit seines Handelns nicht vorwerfen: Er ist einfach so, wie er ist , und handelt so, wie er handelt: Er verwirklicht seine Schöpfungen durch Zerstörung. Bestimmte Sterne »müssen« zerplatzen und explosionsartig zerfallen, damit die in ihren »nuklearen Umwandlungsketten« entstandenen schweren Elemente sich ausbreiten und – Milliarden Jahre später – Planeten, also bisweilen auch organisches Leben begründen können. Andere Supernovae »müssen« in einer Katastrophe zerstört werden, damit die schon durch solche Explosionen komprimierten Wolken galaktischen Wasserstoffs zu sonnenähnlichen, langlebigenSternen kondensieren, welche gleichmäßig und ruhig ihre Planetenfamilie erwärmen, die ebenfalls ihre Entstehung Katastrophen verdankt.
    Aber muß bei der Entstehung der Vernunft gleichfalls ein zerstörerischer Kataklysmus den Anstoß geben? Das 21. Jahrhundert wird diese Frage nicht definitiv beantworten. Es wird weitere sachliche Beweise sammeln und ein neues Bild entwerfen von einer Welt, die eine Anhäufung von zufälligen Katastrophen ist, welche von strengen Gesetzen beherrscht werden, aber in der hier angeschnittenen kritischen Frage wird es keine endgültige Erklärung geben können.
    Allerdings wird es viele Illusionen zerstreuen, die bis auf den heutigen Tag in der Wissenschaft ihr Dasein fristen. So wird es zweifelsfrei feststellen, daß ein großes Gehirn durchaus nicht mit großer Intelligenz
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