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Das Grauen in den Bergen

Das Grauen in den Bergen

Titel: Das Grauen in den Bergen
Autoren: Fred Ink
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- Ein Schreiben und ein Abschied -
     
     
    Namenloses Dorf, 12. Oktober 1927
     
    Liebste Magdalene,
     
    wenn du dies liest, existiere ich nicht mehr. Dein Mann ist dann ausgelöscht, und was von ihm bleibt, wage ich nicht zu beschreiben. In gewisser Weise werde ich gestorben sein, und vermutlich ist es das Beste, wenn du meinen Tod als Gewissheit akzeptierst. Verschwende keinen Gedanken mehr an deinen Gatten, schone deine Kräfte und versuche nicht, mich zu finden. Ich werde tot sein und du wirst endlich Frieden haben. Das ist alles, was du wissen musst.
    Mir liegt viel an deinem Seelenheil, daher würde ich dich am liebsten nicht mit der Chronologie der Ereignisse belasten. Ereignisse, die mich in Abgründe blicken ließen, die tiefer und finsterer sind, als ich sie mir je hätte vorstellen können – Schlünde, sowohl inner-, als auch außerhalb meiner selbst. Ereignisse, die mich vollkommen vereinnahmten, mich die Kontrolle verlieren ließen und die mich schließlich zu jener fürchterlichen und zugleich verheißungsvollen Entscheidung zwangen, die meinem bisherigen Leben so vollständig ein Ende setzen wird.
    Du hast weiß Gott lange genug unter mir und meiner labilen Psyche gelitten; du solltest nicht von den schrecklichen Erlebnissen der letzten Tage gemartert werden, von meinem Entsetzen, meinen Entdeckungen und meiner Ausweglosigkeit. Aber ich liebe dich mehr als alles Andere und daher hast du es verdient, die Wahrheit zu erfahren. Ich möchte vollkommen ehrlich zu dir sein, bevor ich mich aus dieser Existenz verabschiede.
    Vermutlich wirst du meine Ausführungen als Ausgeburt eines kranken Hirns abtun – noch ein schizophrener Schub, ein weiterer Rückschlag nach einer hoffnungsvoll begonnenen Therapie. Mein Geist war seit jeher zerrüttet und das Einzige, was die klaffenden Lücken zwischen der Realität und dem Chaos dahinter zu kitten vermochte, warst du. Es warst einzig du, meine liebste Magdalene. Und du hast inzwischen so viel meines Irrsinns miterleben müssen, dass du begonnen hast, selbst daran Schaden zu nehmen. Du hast dich zurückgezogen, dir eine Auszeit erbeten, um dich von deinem Ehemann zu erholen. Die vorläufige Trennung war eine glückliche Fügung des Schicksals, denn sie sorgte dafür, dass du nicht zugegen warst, als mich der Brief erreichte.
    Mir gefällt der Gedanke, dass du alles, was nach diesem Schreiben kam, als Wahnvorstellungen auslegen könntest, als einen Anfall von Geisteskrankheit, der letzten Endes zu meinem Untergang führte. Am besten verfährst du genau so, meine Liebste. Glaube mir kein Wort, verabschiede dich in Würde und sei endlich frei. Ich werde bald aufhören, dich zu quälen.

- Eine Entlassung und eine Reise -
     
    Ich erhielt den Brief am fünften Oktober. Obgleich jenes Datum erst wenige Tage zurückliegt, hat sich in der Zwischenzeit so vieles zugetragen, dass es mir vorkommt, als wären Jahre vergangen.  
    An diesem Montag wurde ich aus dem Sanatorium entlassen. Ich hatte gute Fortschritte gemacht, wurde mir versichert. Die Medikamente schlugen an, die psychiatrischen Sitzungen halfen dabei, dass ich mich selbst besser verstand und die Beschäftigung mit Ton und Farben ließ mich die inneren Dämonen bekämpfen, indem ich sie in reale Bilder und Skulpturen bannte. Mit der nötigen Medikamention versehen, wollte man mich erneut auf die Welt loslassen.
    Ein sanfter Windhauch umspielte meine Züge, als ich über den laubbedeckten Kiesweg zum Tor schritt. Die Oktobersonne streichelte mir die Wangen und schien sagen zu wollen: Sei guten Muts! So wie die Bäume im nächsten Frühjahr erneut austreiben, so wirst auch du wieder erblühen. Du bist den Ballast deines alten Lebens losgeworden. Der Schnee wird kommen und alles bedecken, und was sich dann vor dir ausbreitet, ist jungfräulicher Boden, den du so beschreiten kannst, wie du möchtest.
    Klingt nach schwelgerischem Unsinn, nicht wahr? Doch an jenem Tag fühlte es sich so an. Ich träumte davon, ganz von vorne zu beginnen, mir ein einfaches, ehrliches Leben aufzubauen und dich zurückzugewinnen. Ich breitete die Arme aus, sog die erdige, kühle Luft in mich auf und trat durch das schmiedeeiserne Tor hinaus in die Freiheit. Mein Koffer stand bereit. Ich ergriff ihn und setzte mich in Richtung der Bushaltestelle in Bewegung. Wohin es mich verschlagen würde, wusste ich nicht – erst einmal in einem Motel unterkommen, dann würde man schon sehen.
    Bereits nach wenigen Schritten sah ich die schwarze
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