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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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zu
zeigen, der damit wiederum Joanne Margolis aufsuchte, die
exzentrische Literaturagentin, die sonst die kosmologischen Texte des
Priesters an den Verleger brachte. Margolis beurteilte Anthonys
Notizen als »das schönste surrealistische Seeabenteuer, das
je geschrieben wurde«, reichte es einem Redakteur des
Navigator-Verlags für Maritime Literatur ein und erfeilschte
einen bescheidenen Vorschuß von dreitausend Dollar. Niemand
hätte jemals erwartet, daß ein so seltsames Buch bald auf
der Bestsellerliste der New York Times stehen
könnte; binnen sechs Monaten nach Erscheinen jedoch errang Die Heilige Schrift nach Popeye wie dank eines Wunders den
Spitzenplatz.
    Anfangs befürchteten Anthony und Cassie, sie
müßten den Großteil der Tantiemen für
Anwaltshonorare und Gerichtskosten aufwenden; aber es stellte sich
heraus, daß weder der Bundesstaatsanwalt der USA noch die
Regierung Norwegens sich zur Strafverfolgung eines Vorfalls berufen
fühlten, den sie weniger als kriminelle Handlung einstuften,
sondern eher als ein auf scheußliche Weise entgleistes
Rollenspiel. Allerdings gerieten die Familien der drei umgekommenen
Militärdrama-Aktivisten über diese Untätigkeit in Wut
(Carny Otis’ Witwe flog sogar nach Oslo, um die Mühlen der
Justiz in Bewegung zu bringen), und an ihrer Erbitterung änderte
sich nichts, bis sich der Staatssekretär des Vatikans
einschaltete, Kardinal Eugenio Orselli. Da er es gewesen war, der den
allzu hitzigen Kapitän Christoph van Horne in Roms Dienste
genommen hatte, erachtete er es als seine moralische Pflicht, die
Hinterbliebenen zu entschädigen. Jeder nahe Verwandte der Toten
erhielt eine steuerfreie Abfindung von dreieinhalb Millionen Dollar
zugeschanzt. Im Sommer 2000 verursachte die ganze, mißliebige
Affäre der Midway-Reinszenierung der Familie Van-Horne-Fowler
keine Sorgen mehr.
    Anthony sah noch immer keine Klarheit in der Frage, ob seine
Entscheidung, den Corpus Dei in der Gruft zu belassen, als
mutig gelten durfte oder er sich einen Feigling schimpfen
mußte. Wenigstens einmal pro Woche trafen er und Pater Thomas
sich im Fort Tyron-Park zu einem Picknick mit
Brie-Baguettbröt-chen und Weißwein, und anschließend
spazierten sie durch The Cloisters, grübelten über
ihre Pflichten gegenüber dem Homo sapiens sapiens nach.
Eines Tages glaubte Anthony, er sähe einen Engel in lichtem
Gewand durch die Fuentiduena-Kapelle schweben, aber es war lediglich
eine bildschöne Studentin der Columbia University in langem,
weißem Kleid, die sich um einen Job als Fremdenführerin
bewarb.
    Die Abmachung, die sie mit di Luca und Orselli eingegangen waren,
konnte als mustergültiges Beispiel der Symmetrie herhalten.
Anthony und Ockham versprachen, nie zu enthüllen, daß Die Heilige Schrift nach Popeye auf Tatsachen beruhte,
und Rom sagte zu, auf Versuche zur Einäscherung des Corpus
Dei zu verzichten. Zwar empfanden sowohl der Kapitän wie
auch der Geistliche die Vorstellung, mit Gottes Leichnam auf
Welttournee zu fahren, als überaus verführerisch, doch
tendierten sie mit der Zeit beide immer stärker zu der
Einschätzung, daß das Ergebnis durchaus etwas Traurigeres
und Blutigeres als die Schöne Neue Welt sein könnte, die
Ockham an dem Tag vor Augen gehabt hatte, als er das Wrack der Regina Maris besichtigte. Ferner war die abschreckende
Verstiegenheit einer solchen Anmaßung zu berücksichtigen.
Nach Anthonys Empfinden hatte niemand das Recht, den Menschen die
Illusion Gottes zu nehmen, nicht einmal Gott selbst, der es
anscheinend hatte versuchen wollen.
    Die Geburtstagsfeier, die Anthony und Cassie veranstalteten, als
Stevie sechs Jahre wurde, diente einem doppelten Zweck. Man beging
den Geburtstag des Jungen und lud zu diesem Anlaß sieben
weitere ehemalige Teilnehmer der letzten Fahrt des Supertankers Valparaíso ein. Natürlich brachten sie Geschenke
mit: einen Stoffwal, ein Puzzle, einen Spielzeug-Colt im Halfter,
eine elektrische Eisenbahn, einen Baseball-Handschuh, einen
Hafenschlepper aus Holz, einen Fisher-Price-Baukasten. Sam
Follingsbee buk Stevies Lieblingskuchen, Heidelbeer-Sahnetorte.
    Während der Mond aufging, rückten die Gäste nach
und nach mit Bekenntnissen heraus, sie gestanden, daß ein
insgeheimes, mittlerweile tief eingefleischtes Bangen sie verfolgte,
das Wissen um den Dahingeschiedenen, der bei den Svalbard-Inseln,
verborgen vor aller Welt, eingeschreint lag, könnte sie
irgendwann den Verstand kosten. Marbles Rafferty gab zu, daß
Freitod in seinen
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