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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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    Die unwandelbare Fremdartigkeit des Universums offenbarte sich
Anthony van Horne an seinem fünfzigsten Geburtstag, an dem ihm
ein verzweifelter Engel namens Rafael erschien, ein Wesen mit
leuchtendweißen Schwingen und einem Heiligenschein, der immerzu
blinkte wie ein Neonring, und dieser Engel ihm von künftigen
Zeiten erzählte.
    Diese unerwartete Begegnung fand auf der Insel namens Manhattan in The Cloisters statt, einer Ansammlung europäischer, in
den Ursprungsländern abgetragener und hier Stein für Stein
wiederaufgebauter Klöster und Kapellen aus dem 12. Jahrhundert
(in diesem abenteuerlichen architektonischen Ensemble, das
Kunsthistoriker zum Schaudern brachte, befand sich eine Dependance
des Städtischen Kunstmuseums), und unter anderem sprach der
Engel über eine zweite und dritte Insel, Sao Tome und
Kvitöi. Ehe er dem Engel Rafael begegnete, hatte Anthony van
Horne natürlich angenommen, seine nahe Zukunft sähe genauso
wie seine unmittelbare Vergangenheit aus, ein schändliches
Ausgestoßenendasein im Schmutz und Ungeziefer einer Bruchbude
an der Lower East Side. Offenbar hatte er sich gründlich
geirrt.
    In dem Jahr verliefen Anthonys Sonntage stets gleich. Gegen Mittag
ging er die U-Bahn hinab, fuhr mit einer Bahn nordwärts zur 190.
Straße, spazierte durch den Fort Tyron Park, betrat das Museum,
nachdem er sich ins Touristengewimmel gemischt hatte, und huschte
hinter den Altar der Fuentadueña-Kapelle. Dort wartete er
angehaltenen Atems und erduldete seine Migräne, bis sich die
Menschenmenge zerstreut hatte.
    Der erste Wachmann, ein ordinärer Jamaikaner mit Hinkebein,
drehte immer getreulich seine Runden, aber normalerweise löste
ihn um Mitternacht ein anderer Wächter ab, ein ausgezehrter
Student der New Yorker Universität, der keine Rundgänge
machte, sondern mit einem roten Nylon-Stadtrucksack voller
Lehrbücher im Saal mit den Einhorn-Wandgehängen blieb. Dort
hockte sich der Student auf den kalten Steinboden und vertiefte sich
in Grays Anatomie-Lehrbuch, sagte sich endlos die lateinischen
Bezeichnungen menschlicher Körperteile vor. »Gluteus
medius, gluteus medius, gluteus medius«, leierte er dann ins
feierliche Umfeld. »Rectus femoris, rectus femoris, rectus
femoris.«
    Auch um diese Mitternacht folgte Anthony ganz seiner Angewohnheit.
Er schlich hinterm Fuentadueña-Altar hervor, schaute nach dem
Studenten (der sich verbissen mit den Falten und Furchen der linken
Hirnhälfte befaßte), strebte anschließend durch
einen romanischen Säulengang zu dem Marmorspringbrunnen in der
Mitte des Innenhofs im Saint-Michel-de Cuxa-Kloster. Sofort griffen
seine Finger zu, öffneten Hose und Gürtel. Er streifte das
weiße Jerseyhemd und das makellose Unterhemd, die
frischgewaschene Twillhose und die unbefleckten Boxershorts ab.
Schließlich stand er nackt in der schwülen Nacht, den
Glanz eines orangeroten Monds auf der Haut, der wie ein riesiger
Orbitalkürbis über den wolkenlosen Himmel wanderte.
    »Sulcus frontalis superior, sulcus frontalis superior,
sulcus frontalis superior«, psalmodierte der Student.
    Seit Anthony den Golf von Mexiko mit zweihunderttausend Barrels
Rohöl verunreinigt, die tiefblauen Fluten der Matagorda-Bucht in
die Beschaffenheit und Farbe des Lakritzesafts verwandelt hatte, zog
es ihn unwiderstehlich an diese Stätte. Es spielte keine Rolle,
daß das Mittelalter-Kuriosum auf seine Weise so unecht war wie
Walt Disneys Klischee einer amerikanischen Hauptstraße.
Für Anthony van Hornes Empfinden wohnte in diesen Räumen
authentische Heiligkeit; für den Ex-Kapitän der Karpag
Valparaíso floß im Innenhof-Springbrunnen das
Weihwasser der Vergebung.
    Anthony suchte in der zur Seite gelegten Hose und holte die
Plastikdose heraus, in der er die Seife aufbewahrte. Er hob den
Deckel, entnahm den gummiartigen, weißlichen Klumpen,
drückte ihn sich fest auf die Brust und beugte sich über
den Brunnenrand. Im goldgelb erhellten Brunnenwasser sah er sein
Spiegelbild – die gebrochene Nase, die hohe, durch Gischt
geknitterte und durch Äquatorsonne verwitterte Stirn, die
großen, müden, in Hautsäcke eingesunkenen Augen, den
struppigen, grauen Bart, der sich über die hohlen Wangen
breitete. Er seifte sich ein, ließ die Seife wie einen kleinen
Rodelschlitten über Arme und Brustkorb rutschen, fing sie auf,
bevor sie hinabfiel.
    »Sulcus praecentralis, sulcus praecentralis, sulcus
praecentralis…«
    Anthony van Horne, Prokurator und Hasardeur in einer Person,
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