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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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Thomas’ Abstieg in die Niedrigkeit oder
die Erkenntnis, daß die Erledigung der Aufgabe, an der Oliver
so kläglich gescheitert war, auch von Rom nicht mehr zu erwarten
stand.
     
»…dann singen wir, wer singen
kann,
ein frohes Lied dem Steuermann…«
     
    Der Kardinal schnitt eine reichlich grimmig-böse Miene, aber
sagte kein Sterbenswörtchen.
     
»… Christ, der am Ruder
stand.«
     
    Thomas Ockham küßte seine Bibel. Cassie schloß
die Lider, ließ das Spirituelle des Augenblicks ihr
aufgewühltes Gemüt durchströmen und besänftigen;
und als das letzte Echo der Schlußsilbe verstummte, wußte
sie, daß kein Wesen, ob normal oder höher, jemals eine
klangvollere Verabschiedung in die finstere, eisige Pforte des Nichts
erhalten hatte.
     
    Die Maracaibo dampfte nach Südosten, durchschnitt mit
flotten 16 Knoten Geschwindigkeit die Wogen des Polarmeers in
Richtung auf die Küste Rußlands. Für Thomas Ockham
blieb die Stimmung an Bord des Tankers schwierig zu deuten.
Natürlich freute es die Seeleute, daß sie die Heimkehr
antraten, doch neben ihrer Erleichterung spürte der Pater
anhaltende Melancholie und Kümmernis, die sich dem
gewöhnlichen Verständnis verschlossen. An dem Abend, als
das Schiff Kvitöi verließ, fanden sich ungefähr ein
Dutzend dienstfreie Mitglieder der Decksbesatzung im Pausenraum zu
einer Art von eschatologischem Potpourri zusammen, und bald hallten
Lieder wie ›Wir leben nicht allein vom Brot‹, ›Gott
hat den Sieg errungen‹, ›Allezeit sing Halleluja‹,
›Lobet den Herren‹, ›Morgenglanz der Ewigkeit‹
und ›Es lebte einst in Indien ein alter Kakadu‹ durch
sämtliche Aufbauten des Tankers. Am nächsten Tag um 12 Uhr
feierte Thomas wie üblich die Messe, und zum erstenmal nahmen
daran satte neunzig Prozent aller anwesenden Christen teil.
    Wie sich erwies, gab es vor Murmansk zu Muringzwecken ein
Außenreede-Pontondock, einen Liege- und Umladeplatz, der es
Tankern gestattete, die Ladung direkt in übers Schelf verlegte
Rohrleitungen zu pumpen, ohne in den Hafen einlaufen zu müssen.
Van Horne regelte die Transaktion per Funk, und vier Stunden nach dem
Anklitschen der Schläuche hatte die Maracaibo ihre Tanks
entleert. Zwar konnten die Russen überhaupt nicht begreifen, aus
welchem Anlaß die Katholische Kirche ihnen rund dreißig
Millionen Liter arabischen Rohöls schenkte, verkniffen es sich
jedoch spontan, dem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen.
Schließlich kam der nächste Winter bestimmt.
    Am Morgen des 25. Septembers, während sich die Maracaibo den Hebriden näherte, empfand Thomas den unwiderstehlichen
Drang zu tiefschürfendem Nachdenken. Er wußte, was er zu
tun hatte. Schon zu Beginn der Reise war ihm ersichtlich geworden,
daß der Mittellaufsteg eines Supertankers fürs Meditieren
die ideale Umgebung verkörperte, das Zustandekommen innerer
Stille ebenso vorteilhaft begünstigte wie der Kreuzgang eines
Klosters. Kaum war er den langen, langen Laufsteg einmal
gemächlich auf- und abspaziert, schon hatte er neue, umwerfende
Einsichten in mehrere größere Rätsel der Gegenwart
gewonnen: Antworten auf die Fragen, wieso die bekannten
Einheitstheorie-Gleichungen nicht die Gravitation miteinbeziehen
konnten, weshalb im Universum mehr Materie als Antimaterie vorhanden
war, warum Gott den Tod gefunden hatte. Ein zweiter solcher
Spaziergang, und er sah selbstkritisch tausend Gründe, um diese
Lösungen ausnahmslos zu verwerfen.
    Hochaufgepeitschte Wellen umbrandeten die Maracaibo. Während er nach achtern schlenderte, stellte Thomas sich
vor, er wäre Moses, der die Israeliten trockenen Fußes
durchs Rote Meer führt, vorüber an schlüpfrigen Felsen
und verdutzten Fischen, auf jeder Seite ein Kliff geteilten Wassers.
Allerdings gelang es ihm partout jetzt nicht, sich wie Moses zu
fühlen. Ihm war absolut nicht wie einem Propheten zumute.
Vielmehr hatte er das Empfinden, der Dorftrottel des Universums zu
sein, ein Mensch, der kaum ein Kreuzworträtsel zu lösen
verstand, geschweige denn eine taugliche Einheitstheorie zu
konzipieren oder das geheimnisvolle Ableben des Schöpfers
aufzuklären.
    Ging es auf einen kosmischen Mordanschlag zurück?
    Ein unausdenkliches übernatürliches Virus?
    Ein gebrochenes Herz?
    Thomas lenkte den Blick nach Backbord und erspähte ein
Schiff.
    Das Wrack trug den Namen Regina Maris und war ein
altmodischer Frachter mit Deckhäusern mittschiffs und achtern;
es dümpelte mit abgeschalteten Maschinen im Wasser und trieb
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