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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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bei jedem anderen.«
    »Zu exhumieren?«
    Thomas Ockham füllte den Staub des Himmelswesens mitsamt den
heiligen Federn ins Bettlaken und verknüpfte die Zipfel mit
einem verschlungenen Knoten.
    »Antworten Sie mir, Thomas. Was meinen Sie damit,
›exhumieren?‹«
     
    Aus nur ihm bekannten Beweggründen ließ Sam Follingsbee
an diesem Abend die Finger von den herkömmlichen
Nahrungsmittelvorräten der Maracaibo und verbrauchte
statt dessen den Rest des von der gesunkenen Valparaíso geretteten Corpus-Dei- Fleischs zur sorgsam
originalgetreuen Zubereitung einer chinesischen Speisenauswahl.
Sobald Thomas das Dankgebet gesprochen hatte, machten er und die
übrigen Teilnehmer des Essens sich an den Verzehr. Alle
aßen langsam, sogar regelrecht andächtig, selbst die
gewohnheitsmäßig ketzerische Cassie Fowler. Auch di Luca
betrug sich so andachtsvoll, als ob er die Herkunft der Mahlzeit
irgendwie ahnte.
    »Ich möchte eine Theorie darlegen«, eröffnete
Thomas den Anwesenden, nachdem er einen Happen Mu gu gai pan
(fabriziert aus Corpus Dei) geschluckt hatte.
    »Er hat das große Rätsel gelöst«,
bemerkte van Horne, kaute falsche Entenfleischwürfel.
    »Als erstes möchte ich eine Frage stellen«, sagte
Thomas. »Wie heißt das verbreitetste Synonym für
Gott?«
    »Liebe«, meinte Schwester Miriam.
    »Weiter.«
    »Himmlischer Richter«, behauptete di Luca.
    »Und außerdem?«
    »Schöpfer«, nannte Fowler.
    »Nahe dran.«
    »Vater«, sagte van Horne.
    Thomas verspeiste ein Stückchen Fleisch nach Art der
Sichuaner Küche. »Vater, genau. Und was ist Ihres Erachtens
letzten Endes die Pflicht jedes Vaters?«
    »Seinen Kinder Achtung zu zeigen«, äußerte
van Horne.
    »Sie bedingungslos zu lieben«, lautete Miriams
Auffassung.
    »Ihnen feste sittliche Grundlagen zu vermitteln«,
tönte di Luca.
    »Er hat ihnen Ernährung, Kleidung und ’n Dach
überm Kopf zu geben«, zählte Fowler auf.
    »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich bin der Ansicht,
daß keine dieser Antworten richtig ist«, gestand Thomas.
»Ein Vater hat letzten Endes die Pflicht, mit dem Vatersein
aufzuhören. Drücke ich mich verständlich aus?
Irgendwann muß er beiseitetreten, es seinen Töchtern und
Söhnen erlauben, selbst das Leben Erwachsener zu führen.
Und ich bin der Überzeugung, genau das hat Gott getan. Ihm war
klar geworden, daß unser andauernder Glaube an ihn uns
Schranken auferlegte, unsere Fortentwicklung hemmte, man könnte
sagen, auf kindlichem Niveau hielt.«
    »Ach, dieses alte Gerede«, höhnte di Luca.
»Ich muß gestehen, es macht mich traurig, daß mir so
etwas von dem Mann aufgetischt wird, der Die Mechanik der Gnade geschrieben hat.«
    »Ich habe das Gefühl«, wandte Miriam ein,
»Thomas will auf etwas Bestimmtes hinaus.«
    »Glaub ich gern«, hämte di Luca.
    »Kann sein, daß ein Vater die Pflicht hat, dem
Nachwuchs den Weg freizugeben«, argumentierte van Horne,
»aber er ist nicht dazu verpflichtet, tot umzufallen.«
    »Doch, wenn er war, was er nun einmal war, sehr wohl«,
erwiderte Thomas. »Denken Sie mal drüber nach. Wäre
Gott nach dem Tod im Himmel geblieben, hätte niemand auf Erden
etwas von seinem Entschluß erfahren, aus dem Leben zu scheiden.
Aber indem er Fleisch annahm und zur Erde kam…«
    »Verzeihung«, fiel ihm di Luca ins Wort, »aber
wenigstens eine Person an diesem Tisch ist der Meinung, daß
genau das schon vor ungefähr zweitausend Jahre passiert ist,
nämlich ich.«
    »Ich glaube das gleiche«, beteuerte Thomas. »Nur
verhält es sich so, daß die Weltgeschichte nicht
stehenbleibt, Eminenz. Wir dürfen nicht in der Vergangenheit
leben.«
    Fowler schlürfte Oolong-Tee. »Worauf möchten Sie
denn nun hinaus, Pater? Wollen Sie die Behauptung aufstellen,
daß er Selbstmord begangen hat?«
    »Ja.«
    »Na wie zombig…!«
    »Obwohl er wissen mußte«, fragte van Horne,
»daß dann die Engel aus Empathie gleichfalls
sterben?«
    »So groß ist eben seine Liebe zur Welt gewesen«,
mutmaßte Thomas. »Er hat seine Existenz willentlich
beendet und uns gleichzeitig für sie einen unstrittigen Beweis
erbracht.«
    »Und wo ist sein Abschiedsbrief?« fragte Fowler.
    »Vielleicht hat er keinen abgefaßt. Oder er steht in
übersinnlicher Weise auf seinem Leichnam geschrieben.«
Thomas häufte aus Corpus Dei gepreßte Kalamari mit
Braune-Bohnen-Soße auf seine Gabel. »Ich weiß nicht,
wie andere es empfinden, aber ich bin von der Selbstlosigkeit unseres
Schöpfers tief gerührt.«
    »Und ich habe den Verdacht,
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