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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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wusch
sich mit Kernseife. In solchen Momenten fühlte er sich sauber,
aber am nächsten Tag, wußte er, war das Öl wieder da.
Es kehrte immer zurück. Denn welche Seife der Welt könnte
all die schwarzen Liter Öl fortwaschen, die schier endlos aus
dem geborstenen Rumpf der Karpag Valparaíso geströmt waren, welches Maß an Reinheit könnte
diese Besudelung auslöschen?
    In den Wintermonaten hatte Anthony jedesmal sein Sauna-Badetuch
mitgenommen, doch gegenwärtig war es Juni – immerhin der
erste Sommermonat –, und ein kurzes Jogging durch die musealen
Räume genügte, um trocken zu werden. Also joggte er auch
diesmal, lief durchs Pontaut-Domkapitel… den
Neun-Helden-Gobelin-Saal… durch den Robert-Campin-Saal mit der
trauten Verkündigungsszene: Der Engel Gabriel unterrichtete
Maria über Gottes Willen, während sie in der
bürgerlichen guten Stube saß, die der Künstler seinen
Gönnern abgeguckt hatte, umgeben von den Symbolen ihrer Unschuld
– einer weißen Kerze, frischgepflückten Lilien, einem
glänzenden Kupferkessel.
    Am Eingang der Langon-Kapelle kauerte unter einem Rundbogen, den
mit Blüten- und Laubschnitzereien verzierte Oberschwellen
stützten, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters in
weißem, weitem Gewand und weinte.
    »Neiiin«, stöhnte er, sein gedämpftes,
feuchtes Schluchzen hallte vom Kalkstein wider.
»Neiiin…«
    Wären nicht die Fittiche gewesen, hätte Anthony
unterstellt, der Fremde wäre, genauso wie er, ein reuiger
Sünder. Aber sie waren vorhanden, diese großen,
leuchtenden Schwingen, ragten in all ihrer gefiederten
Unwahrscheinlichkeit aus den Schulterblättern des
Eindringlings.
    »Neiiin…«
    Der Leuchtende hob den Blick. Über seinem watteweißen
Haar schwebte ein knallroter Heiligenschein und blinkte
unaufhörlich: an-aus, an-aus, an-aus. Er hatte wunde,
entzündete Augen, als wären sie ihm gerade erst
eingepflanzt worden. Wie Perlen flüssigen Quecksilbers entrannen
sich seinen Tränendrüsen runde, silberne Tröpfchen und
flossen beiderseits einer ausgeprägten Hakennase abwärts,
die dem Schnabel eines Tintenfischs ähnelte.
    »Guten Abend«, grüßte der Fremde, rang
krampfhaft um Atem. Der Mann legte die Hände auf die Wangen, und
die Handflächen saugten die Tränen auf, ganz als ob man
einen Tintenlöscher auf einen unendlich traurigen Brief
drückte. »Guten Abend und herzlichen Glückwunsch zum
Geburtstag, Anthony van Horne.«
    »Sie kennen mich?«
    »Unser Zusammentreffen ist nicht zufällig.« Der
Mann hatte eine tiefe, feucht klingende Gluckerstimme, als
spräche er unter Wasser. »Ihr Terminkalender ist dem Himmel
geläufig… diese verstohlenen Besuche des Brunnens, die
geheimen Waschungen…«
    »Im Himmel?«
    »Nennen Sie mich Rafael.« Der Fremde räusperte
sich. »Rafael Azarias.« Seine Haut, so gelblich, daß
ihre Farbschattierung an einen Goldton grenzte, schimmerte im
Mondschein wie ein Messingsextant. Er roch nach sämtlichen
saftigen Wundern, die Anthony auf seinen Fahrten je gekostet hatte:
Papayas, Mangos, Guanabanas, Tamarinden, Guaven und Guineapfeffer.
»Ich bin nämlich tatsächlich der berühmte
Erzengel, der den Dämon Asmodeus bezwungen hat.«
    Ein Geflügelter. Gewand, Heiligenschein,
Göttlichkeitswahn: Wieder so ein typischer New Yorker
Übergeschnappter, mutmaßte Anthony. Trotzdem leistete er
keinen Widerstand, als der Engel Zugriff, fünf eisige Finger um
sein Handgelenk schlang, auch nicht, während er ihn zum
Springbrunnen zurückführte.
    »Sie halten mich für einen Betrüger?« fragte
Rafael.
    »Zumindest ist’s mir durch den Kopf gegangen.«
    »Dann schauen Sie mal her…«
    Aus seinem linken Flügel rupfte der Engel eine Feder und warf
sie in den Brunnen. Zu Anthonys Erstaunen zeigte sich im Wasser ein
wohlvertrautes Gesicht in etwa der Art grober Tiefenschärfe, an
die er sich von 3-D-Comic-Heften entsann.
    »Ihr Vater ist ein überragender Seemann«, sagte der
Engel. »Befände er sich nicht im Ruhestand, hätten wir
statt Sie vielleicht ihn auserwählt.«
    Es schauderte Anthony. Ja, er war es wirklich, der blendend
gutaussehende Kapitän der Amaoca Caracas, der Exxon
Fairbanks und eines Dutzends weiterer berühmter Tanker
– die hoch emporgeschwungene Stirn, hohen Wangenknochen,
klassische Römernase und die quasi schaumige Mähne
perlgrauen Haars waren unverkennbar. Auf seiner Geburtsurkunde stand
»John van Horne«, doch sobald er einundzwanzig wurde, hatte
er den Vornamen zu Ehren seines geistigen Mentors
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