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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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Sie alles im Griff haben?«
fragte der Kapitän den Ersten Offizier.
    »Ist ’n Kinderspiel.«
    Und so verließ Anthony van Horne die Brücke das letzte
Mal als Angestellter der Karibischen Petroleum AG.
    Wie eine aufgescheuchte Wildente kam der Mahagonirumpf-Dampfer,
bis an den Schandeckel voller Rohkokain beladen, mit dreißig
Knoten Geschwindigkeit aus der Nacht gesaust. Ohne Positionslichter.
Unbeleuchtetes Steuerhaus. Als Kate Rucker ihre Warnung ins
Walkie-talkie schrie, war das Dampfschiff kaum noch eine Viertelmeile
entfernt.
    »Ruder hart steuerbord!« brüllte auf der
Brücke Buzzy Longchamps, und der Steuermann gehorchte
augenblicklich, brachte dadurch den Tanker auf direkten Kurs zum
Bolivar-Riff.
    Anthony van Horne, der ausgestreckt, überwältigt vom
Schmerz, in seiner Koje lag, spürte ein Erbeben und Schlingern
der Valparaíso. Sofort wälzte er sich hinaus und
sprang auf die Füße, aber noch bevor er in den Flur
gelangte, drang ihm der abstoßende Geruch ausgelaufenen
Öls in die Nase. Er nahm den Aufzug zum Wetterdeck, rannte ins
Freie und auf den langen, mittigen Laufsteg hoch über dem
verschlungenen Gewirr der Rohre und Ventile. Überall wallten
Dämpfe empor, umquollen als große, dichte Wolken die
Ladepfosten und überbordeten die Seiten des Schiffs wie
Gespenster auf der Flucht. Anthonys Augen füllten sich mit
Tränen, es brannte ihm im Hals, seine Nasenhöhlen wurden
wund und blutig.
    »Heilige Scheiße!« schrie irgendwo eine
Teerjacke.
    Sobald Anthony mittschiffs die Treppe erreichte, klomm er
hinunter, eilte übers Wetterdeck und beugte sich steuerbords
übers Schanzkleid. Der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers glitt
über die Umgegend, die gesamte stinkige Sauerei, das schwarze
Wasser, den aufgerissenen Rumpf, das zähe, dickflüssige
Öl, das aus dem Leck floß. Später erfuhr Anthony, wie
dicht sie in dieser Nacht vor dem Sinken gestanden hatten; erhielt er
zur Kenntnis, daß das Bolivar-Riff den Rumpf der Valparaíso geradeso aufgeschlitzt hatte, wie ein
Büchsenöffner den Deckel einer Dose Hundefutter für
einen Spaniel aufschnitt. Zum Zeitpunkt des Unglücks gewahrte er
nur das Öl und die Dämpfe – roch den Gestank –
und erlebte die eigentümliche geistige Klarheit, die die
Einsicht eines Menschen begleitet, daß er den schrecklichsten
Augenblick seines Lebens durchmacht.
    Aus der Warte der Karibischen Petroleum AG zählte es kaum, ob
die Valparaíso in der bewußten Nacht gesunken war
oder nicht gesunken. Ein Achtzig-Millionen-Kröten-Supertanker
bedeutete einen Klimpergeldverlust im Vergleich zu den viereinhalb
Milliarden Dollar, die die Karpag letzten Endes für
Schadenersatzzahlungen und Anwaltskosten, zur Lobbyistenbestechung,
an Abfindungen für texanische Garnelenfischer, für
Umweltsäuberungsaktionen, die mehr Unheil als Nutzen bewirkten,
sowie eine aggressive Werbekampagne zum Wiederaufpolieren des
Firmenimages aufwenden mußte. Die brillant konzipierte Reihe
»aufklärender« TV-Kurzfilmchen, die das Unternehmen
bei Hollywoods Musikvideoproduzenten in Auftrag gab, überstieg
das eingeplante Budget in groteskem Umfang, so eilig hatte es die Karpag, sie ohne Verzögerung auf Sendung zu bringen.
»Außer wenn Sie lange genug und sehr aufmerksam
hinschauen, merken Sie wahrscheinlich gar nicht, daß ihr
Schönheitsfleck fehlt«, schwadronierte der Sprecher von
TV-Spot Nr. 12 zu einem retuschierten Foto Marilyn Monroes.
»Ähnlich verhält es sich, wenn Sie einen Blick auf die
Karte der Küste von Texas werfen…«
    Anthony van Horne umklammerte die Steuerbordreling, starrte aufs
auslaufende Öl hinab und weinte. Hätte er erraten, was
folgte, vielleicht hätte er einfach dort verharrt, gebannt vom
Ausblick in die Zukunft: den sechshundertvierzig Kilometer
geschwärzten Strands, zweitausend Morgen ausgerotteter
Garnelenzucht, dem schonungslosen Sterben von viertausend
Meeresschildkröten und Grindwalen, von sechzigtausend in
texanisches Rohöl getauchten und für immer gestrandeten
Blaureihern, rosaroten Löfflern, prächtigen Ibissen und
schneeweißen Silberreihern. Aus Unkenntnis des Nachfolgenden
stieg er jedoch hinauf ins Steuerhaus, wo er aus Buzzy
Longchamps’ Mund als erstes den Hinweis »Käpten, wir
stecken da ein Stück weit in der Scheiße!«
hörte.
    Zehn Monate später sprach eine Anklagekammer Anthony aller
Vorwürfe frei, die der Staat Texas gegen ihn erhoben hatte:
Grobfahrlässigkeit, Inkompetenz, Abwesenheit von der
Brücke. Damit fällte sie ein
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