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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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Phantasien weit häufiger eine Rolle als vor
der Großfahrt in die Arktis spielte. Crock O’Connor
gestand freimütig ein, von dem Drang gepeinigt zu werden,
Fernsehpfarrer Domaine Folgesoffsky anzurufen und öffentlich der
Welt zu offenbaren, daß ihre Gebete an durchstoßenen
Trommelfellen scheiterten. Dennoch meisterten sie nach wie vor ihr
Leben, konnten sogar als recht erfolgreiche Bürger des Jahres
Anno Postdomini Sieben bezeichnet werden.
    Rafferty war jetzt Kapitän der Exxon Bangor. O’Connor hatte sich aus der Seefahrt zurückgezogen und
bemühte sich gegenwärtig bei Tag und Nacht um die Erfindung
der holografischen Tätowierung. Follingsbee hatte in Bayonne ein
Lokal eröffnet, Le Krakentang, ein stimmungsvolles
Uferrestaurant, auf dessen Speisekarte kurioserweise keinerlei
Meeresfrüchte standen. Lou Chickering spielte in der
Fernsehserie Mein Herz und deine Seele einen immergeilen
Gehirnchirurgen und war gerade in der Zeitschrift In Flagranti zum Herzensbrecher der Woche ausgerufen worden. Lianne Bliss
arbeitete als technische Leiterin eines radikalfeministischen
Rundfunksenders in Queens. Pater Ockham und Schwester Miriam hatten
kürzlich zusammen das Buch Einer von vielen geschrieben,
eine umfassende Geschichte sämtlicher ach so wechselhaften
Gottesvorstellungen der Menschheit, angefangen beim entschiedenen
Monotheismus Pharao Echnatons bis hin zu Teilhard de Chardins
kosmischem Christus. Das Tischgebet sprach Neil Weisinger, der
inzwischen in einer aufblühenden Gemeinde Brooklyner Reformjuden
als Rabbi fungierte.
    Nach der Feier suchten Vater und Sohn das Dach auf, während
die Erwachsenen ein zweites Mal Kuchen verputzten, unterdessen die
Muscheln und Vogelnester bestaunten, die Cassie auf der
Hochzeitsreise zu den Galäpagosinseln gesammelt hatte. Frischer
Wind wehte, der Nachthimmel war wundervoll klar. Es schien, als
hätte die Insel Segel gehißt und jagte unter dem
wolkenlosen Firmament dahin.
    »Wer hat die gemacht?« fragte Stevie, zeigte auf die
Sterne.
    Ein alter Knabe am Nordpol, lag Anthony als Auskunft auf der
Zunge, doch er sah ein, daß so eine Antwort den Jungen nur
verwirren müßte. »Gott.«
    »Wer ist Gott?«
    »Das weiß keiner.«
    »Wann hat er sie gemacht?«
    »Vor langer Zeit.«
    »Ist er noch da?«
    Der Kapitän füllte die Lungen mit rauchig-rauher
Manhattaner Luft. »Natürlich ist er noch da.«
    »Gut.«
    Gemeinsam spähten sie ihre Lieblingssterne aus: Sirius,
Prokyon, Beteigeuze, Rigel, Aldebaran. Stevie van Horne war Sohn
eines Seemanns. Er kannte die Milchstraße so genau wie den
eigenen Handrücken. Während dem Kind die Lider absanken,
wiederholte Anthony im Singsang die diversen Namen, mit denen man den
besten Freund des Seefahrers benannt hatte: »Nordstern,
Leitstern, Polarstern, Polaris…«, sang sie immer wieder.
»Nordstern, Leitstern, Polarstern, Polaris…« Durch
diese Methode brachte er seinen Sohn an den Rand des Schlummers.
    »Das war ein schöner Geburtstag, Stevie«, sagte
Anthony zu dem schläfrigen Kind, während er es die Stiege
hinabtrug. »Ich hab dich lieb«, fügte er hinzu, als er
die Bettdecke über den Jungen breitete.
    »Vati mag Stevie«, krächzte Seeräuber-Jenny.
»Froggy liebt Tiffany. Vati mag Stevie.«
    Wie sich herausgestellt hatte, wollte Tiffany den Vogel nicht
haben. Sie hatte nichts für Tiere übrig, und zudem war ihr
klar, daß Seeräuber-Jenny weniger eine gefühlvolle
Erinnerung an ihren aus dem Leben gerissenen Gatten als eine
unerbittliche Mahnung an seinen Tod abgäbe. Über zwanzig
Stunden des Vorsprechens hatte Anthony investiert, um den Ara den
neuen Satz zu lehren, aber es war die Mühe wert gewesen. Nach
seiner Auffassung müßten alle Kinder der Welt beim
Einschlafen die Stimme eines wohlwollenden, gefiederten
Geschöpfs – eines Papageien, eines Beos, eines Engels
– ihnen etwas ins Ohr flüstern hören.
    Für eine Weile stand er an Stevies Bett und betrachtete das
Kind. Der Junge hatte die Nase der Mutter, das Kinn des Vaters und
von der Großmutter väterlicherseits den Mund. Mondschein
strömte ins Zimmer, tauchte ein Plastikmodell des Raumschiffs Enterprise in helles Licht. Aus dem Vogelkäfig drang das
uhrwerkartig gleichmäßige Tock-tock, das entstand,
wenn Seeräuber-Jenny am Spiegelchen pickte.
    Gelegentlich sah Anthony – heute nicht, aber manchmal –
auf dem Vogel eine pechschwarze Schicht ätzenden texanischen
Rohöls, es über Rücken und Flügel fließen,
auf den Käfigboden rinnen und
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