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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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nicht verschwiegen
habe –, sie werden danach, wenn sie die Nase wieder an die Luft
zu heben wagen, eine derart engstirnige und frauenfeindliche
Theokratie errichten, daß sich das mittelalterliche Spanien
vergleichsweise wie die Reeperbahn ausnimmt.«
    Thomas biß eine fritierte Omelettrolle entzwei und wies mit
dem Stumpf auf Schwester Miriam. »Das sind zwei Stimmen dagegen
und meine Stimme dafür.«
    Die Nonne tupfte sich mit einer weißen Leinenserviette den
Mund ab. »Herrgott, Tom, es war eine dermaßen
umständliche, mühselige Schinderei, ihn ins Grab zu betten,
da ist die Zumutung, alles rückgängig zu machen, wirklich
beinahe zuviel verlangt…« Sie schlang die Serviette straff
um die Hand, als verbände sie verletzte Finger. »Aber je
ausgiebiger ich nachdenke, um so mehr neige ich zu der Einsicht,
daß es wohl tatsächlich unserer Verantwortung obliegt, der
restlichen Menschheit die Existenz des Corpus Dei zur Kenntnis
zu geben. Es ist doch das, was er wollte, nicht wahr?«
    »Das macht zwei Stimmen dafür, zwei dagegen«,
faßte Thomas zusammen. »Nun kommt’s auf Sie an,
Kapitän.«
    »Wenn du mit Ja stimmst«, warnte Cassie Fowler ihn,
»rede ich kein Wort mehr mit dir.«
    Für eine volle Minute sprach van Horne kein einziges Wort.
Stumm saß er vor seinen Eiernudeln, strich versonnen mit der
Gabel durch die hellgelben Stränge, als ob er sie kämmte.
Thomas bildete sich ein, er könnte das Hirn des Kapitäns
arbeiten sehen, das Pulsen und Blinken der fünf Milliarden
Neuronen.
    »Ich glaube…«
    »Ja?«
    »… darüber muß ich erst noch mal
schlafen.«
     
    30. September
    Nacht. Sternenloser Himmel. Wind der Stärke 6 von Osten.
    Die Engel haben uns also belogen. Nein, gelogen haben sie
streng genommen nicht. Sie sind lediglich vom Weg der Wahrheit
abgeirrt, haben zugelassen, daß die Trauer ihnen den Blick
für Gottes Willen nahm.
    Und wenn Rafael in bezug auf die Unverzichtbarkeit der Bestattung
übertrieben hat, dann hat er vielleicht auch in manch anderer
Hinsicht zu sehr auf die Pauke gehauen – zum Beispiel mit der
Behauptung, nur mein Vater könnte mir Verzeihung
gewähren.
    Wenn Engel flunkern, Popeye, wem soll man dann noch trauen?
    Wir dampfen um die Hebriden, und auch meine Gedanken bewegen sich
fortwährend im Kreis. Ich kann beide Seiten verstehen, und genau
das macht mich schier verrückt. Ich würde dem Pater die
Welttournee nicht wegen persönlicher Vorteile für mich
zugestehen. »Exhumiere ihn«, sagt jedoch Cassie zu mir,
»und du siehst mich nie wieder.«
    Und dennoch überlege ich, ob Ockham und Schwester Miriam
vielleicht nicht doch recht haben.
    Ich frage mich, ob wir dem Menschengeschlecht nicht die Wahrheit
schuldig sind.
    Mich beschäftigt die Frage, ob eine schlechte Neuigkeit
dieses Kalibers nicht das Beste wäre, was dem Homo sapiens
sapiens je zustoßen könnte.
     
    In den ersten vier Jahren lebten sie wie ein Bauernpaar in dem
engen Landhäuschen, das Cassie in Irvington gemietet hatte, doch
sobald der Reichtum über sie hereinschwappte, beschlossen sie,
es sich gutgehen zu lassen, und zogen in die Stadt. Trotz des
plötzlichen Wohlstands blieb Cassie in ihrem Beruf,
konfrontierte die gottesfürchtigen Schüler des
Städtischen Colleges Tarrytown beharrlich mit Erläuterungen
der natürlichen Auslese und sonstigen aufrüttelnden
Theorien. Anthony betätigte sich als Hausmann und kümmerte
sich um den kleinen Stevie. Ursprünglich hatten sie ihr
gemeinsames Dasein mit etwas Umsicht zu führen beabsichtigt. Das
Geld hätte ja schneller ausgehen können, als sie
dachten.
    Als Eltern in Manhattan zu wohnen, erwies sich als
ernüchternde und leicht absurde Herausforderung. Polizeisirenen
störten jedes Nickerchen. Die Luftverschmutzung verschlimmerte
jeden Schnupfen. Um dafür zu sorgen, daß Stevie
nachmittags heil von der Montessori-Schule nach Hause gelangte,
mußten Cassie und Anthony einen koreanischen Kampfsportlehrer
als Begleitwächter anstellen. Die geräumige, im 4. Stock
gelegene Eigentumswohnung, die sie an der Upper East Side erwarben,
schloß die Dachnutzung mit ein, und wenn Stevie eingeschlafen
war, kuschelten sie sich in ihren Strandsesseln aneinander,
betrachteten den trüben Himmel und malten sich aus, sie
lägen auf dem Vordeck der versunkenen Valparaíso.
    Ihr finanzieller Aufstieg hatte einen geradezu unwahrscheinlichen
Ursprung. Kurz nach dem Eintreffen in Manhattan kam Anthony auf den
Einfall, seine privaten Tagebuchaufzeichnungen Pater Thomas
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