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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl
Autoren: James Morrow
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durch Schottlands Nebel wie eine Gespensterfregatte,
erinnerte an die Sage vom Fliegenden Holländer. Um Punkt 14 Uhr
betrat Thomas, hinter sich Marbles Rafferty, das Fallreep. Kalte
Dunstschleier umwehten sie, verwandelten ihren Atem in Dampf und
verursachten ihnen Gänsehaut.
    Als er aufs Hauptdeck gelangte, sah er, wer mit der Regina
Maris auf so glücklose Fahrt gegangen war, nämlich die
Verwaisten des Himmels selbst. Offensichtlich hatte die Besatzung aus
Cherubim bestanden. Überall lagen ihre aufgedunsenen, fahlgrauen
Leichen verteilt, Dutzende rundlicher Mini-Engel verwesten auf dem
Vordeck, faulten an den Lüfterköpfen, moderten auf dem
Quarterdeck. Winzige Federn gaukelten wie Schneeflocken im
Nodseewind.
    »Kapitän, wir haben hier was unerhört Unheimliches
entdeckt«, sagte Rafferty ins Walkie-talkie. »An Bord
befinden sich um die vierzig tote Kinder mit Flügeln auf ’m
Rücken.«
    Aus dem Apparat knisterte van Hornes Stimme. »Kinder? Du
liebe Güte…«
    »Lassen Sie mich mit ihm reden«, bat Thomas, streckte
die Hand nach dem Walkie-talkie aus. »Keine Kinder, Anthony, es
sind Cherubim.«
    »Cherubim?«
    »Hm-hm.«
    »Sind keine Überlebenden da?«
    »Ich glaube nicht. Es ist erstaunlich, daß sie’s
so weit in den Norden geschafft haben.«
    »Denken Sie das gleiche wie ich?« fragte van Horne.
    »Wo Cherubim sind«, antwortete Thomas, »können
Engel nicht weit sein.«
    In ihrem rostzerfressenen, desolaten Zustand konnte man von der Regina Maris kaum behaupten, sie wäre in besserem Zustand
als die dahingeraffte Besatzung. Sie wirkte, als hätte Gott
persönlich sich ihrer bemächtigt, sie aufgesaugt, wäre
sie durch seine Eckzähne zerschrammt, seinen Speichel
verätzt und anschließend in die See zurückgespien
worden. Thomas suchte mittschiffs das Deckhaus auf, angelockt von
einem durchdringend-fruchtigen, so starken Odeur, daß es den
Gestank der toten Cherubim überlagerte. Seine Halsschlagadern
pochten. In seinen Ohren hörte er das Blut wummern. Er folgte
dem Geruch durch einen feuchten Korridor, einen Aufgang empor und in
eine düstere Kabine.
    Am hinteren Schott hing Robert Camins meisterhaftes Gemälde Verkündigung, entweder eine hervorragende Kopie oder das
Original aus den Manhattaner Cloisters, entscheiden konnte der
Geistliche es nicht. Von der Koje strahlte schwache Helligkeit aus.
Thomas näherte sich der Koje mit dem gleichen respektvollen
Schritt wie vor drei Monaten im Vatikan, als er Papst Innozenz XIV.
gegenübertreten durfte.
    »Wer ist da?« erkundigte sich der Engel, stützte
sich auf den Ellbogen. Ein schwarzer erloschener Heiligenschein
baumelte ihm um den Hals, ähnelte einem weggeworfenen
Keilriemen, wie sie sich massenweise auf der Van-Horne-Insel finden
ließen.
    »Thomas Ockham vom Jesuitenorden.«
    »Von Ihnen habe ich schon gehört.« Die Kreatur
schob die Bettdecke beiseite und entblößte ihre sieche
Gestalt. Obwohl ihre Haut rissig und körnig geworden war,
zeichnete sie sich auf eigenartige Weise noch immer durch eine
gewisse Feinheit aus, etwa wie für einen geweihten Zweck
geschaffenes Schmirgelpapier: zum Glätten des Kreuzes, zum
Abschleifen der Arche. Auf den knochigen Knien hatte der Engel eine
kleine Harfe liegen. Die von Haufen ausgefallener Federn umgebenen
Schwingen waren mittlerweile nackt wie bei einer Fledermaus.
»Nennen Sie mich Michael.«
    »Soll mir eine Ehre sein, Michael.« Thomas drückte
die Sendetaste. »Anthony?«
    »Ja?«
    »Wir haben recht behalten. An Bord ist ein Engel.«
    »Der letzte Engel«, krächzte Michael. Seine Stimme
klang brüchig und knochentrocken, als wären die
Stimmbänder ebenso eingerostet wie das Schiff.
    »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« fragte Thomas,
steckte das Walkie-talkie in die Seitentasche des Parkas. »Haben
Sie Durst?«
    »Durst… O ja. Dort auf dem Sekretär…
bitte…«
    Thomas schaute sich in der Kabine um und erblickte eine
Glasflasche mit vier Kammern, die die Form eines menschlichen Herzens
hatte und Wasser enthielt.
    »Ist es zu spät?« Der Engel nahm die Harfe von den
Knien. »Habe ich die Bestattung versäumt?«
    »Sie haben sie verpaßt, ja.« Als Thomas die
Flasche an die welken Lippen setzte, sah er, der Engel war blind.
Hart und milchig ruhten die Augen in seinem Kopf wie Perlen einer
todkranken Auster. »Tut mir leid.«
    »Aber er ist jetzt in Sicherheit?«
    »Rundum.«
    »Und es ist nicht zuviel Verwesung eingetreten?«
    »Nein, mäßig.«
    »Lächelt er noch?«
    »Er
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