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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen
Autoren: Anja Abens
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1. KAPITEL
    Meike
    Ständig werde ich bewertet. Von morgens bis abends. Ob von meiner Familie, von Freunden oder Lehrern oder wildfremden Personen. Sie haben alle Kriterien zur Bewertung meiner Person. Kriterien zu Äußerlichkeiten, Leistungen bis hin zu meinem Selbst. Zu dick, zu dünn, zu normal, zu hässlich, zu schwach in Mathematik, zu viel Furcht, vom Kunstrad zu fallen, zu viel Angst, um einen Fortschritt machen zu können, zu verwöhnt, zu aggressiv. Sie bewerten mich nicht nur, sie stellen zudem Anforderungen. Würde ich ihre Erwartungen erfüllen, würde ihre Bewertung besser ausfallen.
    Am schlimmsten sind die Erwachsenen. Meine Eltern, vornehmlich meine Mutter. Sie hat die Erwartung, ich müsse süß sein, nett, freundlich, höflich, ich soll ein Püppchen sein und mich brav hersetzen bei Familienfeiern, lieb ausschauen, ein Gedicht aufsagen, einen Sketch aufführen, Geige vorspielen. Ich soll eine Leistung erbringen, was sollte ich sonst auf einem Familienfest, wenn nicht mich und die Familie anständig präsentieren? Familienfeste scheinen für sie nur dazu da, den anderen zu zeigen, wie wundervoll alles ist: meine kleine perfekte blonde Tochter neben meinen anderen Kindern, allesamt ebenfalls perfekt. Versteht sich.
    Neben meiner Mutter ist mein Vater kaum zu bemerken. Meine Mutter ist aussagekräftig in ihrer Person, wenn meine Mutter da ist, ist nur sie da, meinen Vater nehme ich nicht wahr.
    Neben meiner Mutter stehen an meines Vaters Stelle die Lehrer. Allen voran meine Deutsch- und Französischlehrerin. Gute Noten zu schreiben ist eine Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz. Ich kann nicht immer gute Noten schreiben. Aber ich brauche die Akzeptanz und die Anerkennung der Gesellschaft, anderer Menschen. Für meinen Trainer im Sportverein, Heinz Steffen, ist es sein Job, mich zu kritisieren. Seit meinem achten Lebensjahr fahre ich Kunstrad. Damals hat es mir noch Spaß gemacht. Ich konnte die Übungen oft schon beim ersten Mal fehlerfrei fahren. So, als würden Kunstradfahren und ich zusammengehören.
    Jetzt bin ich älter und langsamer darin, neue Dinge zu erlernen. Aber das geht nicht! Ich muss kontinuierlich besser werden. Denn es gibt Pokalfahren, ich muss mein fünfminütiges Programm vorführen und es muss schwieriger sein als beim vorherigen Turnier. Sonst bekomme ich Stress, Stress mit Herrn Steffen, der auf mich baut, weil ich in unserem Verein die beste Fahrerin meiner Altersklasse bin. Mein Trainer erwartet von mir, dass ich stets konzentriert und ohne Angst bei der Sache bin und dass ich nicht immer wieder die gleiche Abfolge fahre, selbst wenn Routine gut ist; ich soll neue Kunststücke versuchen. Aber diese Übungen will ich nicht machen, sie funktionieren nicht, und einige machen mir regelrecht Angst. Vor allem der Lenkerstand. Dazu muss ich auf den Lenker klettern und schließlich mit den Füßen auf den Griffen stehen. Wenn man mir nur Zeit ließe. Ich gehe nicht mehr gern zum Kunstradfahren. Ich kann das Pokalfahren nicht nur nicht leiden. Ich hasse es. Ich habe Angst davor, Fehler zu machen, mir ist es peinlich, vor anderen Leuten überhaupt auf meinem Rad zu sitzen, und wenn ich dann auch noch hinunterfalle … Ich kann es nicht leiden, wenn diese Menschen mich anstarren und mir nichts anderes übrigbleibt, als in ihren Augen zu lesen, dass ihre Bewertung schlecht ausfällt, dass ich mies bin und doch lieber absteigen sollte, um dem Trauerspiel ein Ende zu machen. Ich hasse Pokalfahren auf den Tod. Und nein, Mama, du hast unrecht, wenn du sagst, dass es mit jedem Mal besser wird, dass die Aufregung mit jedem Mal etwas schwächer sein wird. Mama, es wird schlimmer, ich ertrage es kaum noch und habe eine höllische Angst vor diesen Wettkämpfen. Hörst du mir nicht zu, wenn ich mit dir rede? Nein? Wieso auch? Du siehst nur meine Leistungen, du hörst nur, wie die anderen Menschen über mich urteilen. Mich siehst und hörst du nicht. Und natürlich muss ich am Wochenende zum Turnier.
    Anja
    »Das wird nichts, wir blamieren uns!«, höre ich Meike auf der Rückbank zischen. Im Rückspiegel sehe ich ihren erbosten Blick. Sie sitzt zwischen Marvin, unserem Pflegesohn, der mit seinem Gameboy beschäftigt ist, und Carina, ihrer besten Freundin.
    »Aber ist doch nicht so schlimm«, versucht Carina sie zu beruhigen. »Wir versuchen es und gut.«
    »Nein, es ist peinlich!«
    Darauf erwidert Carina nichts mehr. Sie weiß anscheinend auch, wann es bei Meike besser ist, den Mund zu
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