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Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)

Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)

Titel: Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
Autoren: Anna Fuchs
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ausgestatteten Schlafräumen. So nah und doch so weit und unerreichbar … Ein Schmerz, so tief und bohrend, wie ihn nur ein vierjähriges Kind empfinden kann, das sich ungeliebt und verstoßen fühlt, bemächtigte sich seiner und trieb dicke Tränen in seine kleinen, bernsteinfarbenen Augen. Nun – er wusste, hier beim Burgherrn würde er nur unerwünscht sein und schnell sah er weg. Sein großer Kopf auf den schmächtigen Schultern wandte sich ruckartig in die andere Richtung zum Kemenatenbau, dem Wohnbereich der Frauen im älteren, schon ein wenig heruntergekommenen Teil der weitläufigen Burg. Sofort verschwand sein sehnsüchtiger Blick, sein unterdrücktes Verlangen nach Zuneigung und Liebe machte einem spöttischen, abfälligen Grinsen Platz. Nur zu gut konnte er sich an den gestrigen Tag erinnern, alle Einzelheiten hatte er behalten und spielte sie immer wieder von Neuem in Gedanken durch. Gestern, wo er in der kleinen Stube dieser kränklichen Frau gegenübergestanden war. Wie sie sich keuchend mit behandschuhten Fingern an den spitzenumrüschten Hals gegriffen hatte, so wie immer, wenn sich ein neuer Anfall ankündigte. Wie ihr verzerrter Mund lautlos das Wort »Hilfe« geformt hatte, wie sie immer wieder auf die Flasche mit dem Kräutersud gezeigt hatte. Grenzenlos war die Macht, die das Kind in seiner noch so jungen Brust fühlte. Einfach berauschend war es, als der Knabe nur dastand, die Hände im Rücken verschränkt, den Blick ruhig auf die zitternde, um Haltung bemühte Frau gerichtet. Fasziniert beobachtete er, wie ihre Lippen immer blauer wurden, die schmalen Hände sich verkrampften, der Atem immer pfeifender und schneller ging. Mühsam hielt sie sich aufrecht, stützte sich ans Fensterbrett und bettelte mit tränenblinden Augen um ihre Medizin, denn sprechen konnte sie jetzt nicht mehr. Nur Verachtung war im Antlitz des Burschen zu lesen, als er weiter untätig zusah, wie die zerbrechliche Frau in sich zusammensackte, sich kurz am Boden wand, unkontrolliert zu zucken begann und schließlich regungslos liegenblieb. Ein paar Minuten noch stand er weiter da, sah sich im hohen, kalten Zimmer um, verabschiedete sich von jedem einzelnen Stück Mobiliar. Der dunkelroten Wandbespannungen, dem großen Kamin, der doch nicht genug Wärme spenden konnte, um die dicken Mauern aufzuheizen, der Truhe mit den Kleidern dieser Frau, die nichts lieber tat, als sich mehrmals am Tag umzukleiden und herauszuputzen, dem Kreisel, dem Holzpferd, der kleinen Holztruhe mit den bunten Murmeln. Mit sichtlicher Genugtuung gab der Knabe der Stickarbeit, die nahe dem Erkerfenster in einen Rahmen gespannt war, einen groben Fußtritt. Mit lautem Krachen zerschellte der Holzrahmen an der Wand, und die feine Stickarbeit, die eine halbfertige Figur des heiligen Rochus mitsamt einem kleinen braunen Hund erahnen ließ, hing zerfetzt herunter. Dann war wieder Stille. Nichts rührte sich. Ganz nahe ging er zu der reglosen Gestalt am Boden und tippte ihr mit der Fußspitze grob in den Bauch. Keine Erwiderung, kein Stöhnen, kein Seufzen mehr, kein Jammern, kein Weinen. Jetzt hatte er Gewissheit, er spürte es mehr, als er es sich mit seinem jungen Verstand erklären konnte. Sie war tot, endlich, sie würde nicht mehr aufstehen. Keine nassen, schlecht riechenden Küsse, keine zittrigen Umarmungen, kein Streichen über sein Haar mit Spinnenfingern und vor allem keine geschlossene Tür, kein verwehrter Weg nach draußen, in die Luft, in die Höhe, näher zur Sonne, hinein in den Wind …
    Jetzt, einen Tag später, konnte er seine Freiheit immer noch nicht fassen. Vergessen war der Tumult von gestern, die vielen Leute, die mitleidsvollen Worte, das Heraustragen des leblosen Körpers, die weihrauchgeschwängerte Aura der kirchlichen Würdenträger. Alles vorbei, alles vergessen. Der kleine Knabe am Turm spannte die Ärmchen weit von sich, seine unnatürlich schwache Brust wölbte sich, ein kehliges, krächzendes Lachen, das sich eher wie der Ruf eines Raubvogels anhörte, entrang sich seinem Mund, den er weit aufgerissen hatte. Welch absonderliche Kreatur er hier auf der Spitze des fünfeckigen Turmes abgab, wie lachhaft und närrisch er sich auch gebärdete, er selbst sah das gar nicht so. Wie begeistertes Triumphgeschrei klang das kümmerliche Krächzen in seinen eigenen Ohren, stark wie Adlerschwingen fühlten sich seine dünnen Arme an, unbezwingbar und unverwundbar erlebte er seine verwachsene Gestalt.
    Es war, als wollte er fliegen,
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