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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings
Autoren: Marina Fiorato
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Während ich im silbrigen Morgengrauen den Strand entlangwanderte, wurden die verkohlten Leichen von Seeleuten an Land gespült. Bei einigen handelte es sich um Genueser, bei den meisten jedoch um Neapolitaner. Ich holte tief Atem und machte mich
an die grässliche Aufgabe, jeden Leichnam umzudrehen und in jedem aufgedunsenen Gesicht nach Bruder Guidos Zügen zu forschen. Mein Herz sagte mir, dass er tot war, aber ich musste Gewissheit haben, sonst würde ich nie wieder zur Ruhe kommen. Meine Füße wurden in der eisigen Gischt taub, die über meine Schuhe hinwegspülte, aber ich achtete nicht darauf.
    »Luciana«, begrüßte mich plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich fuhr wie elektrisiert herum und sah mich Signore Cristoforo gegenüber.
    »Kommt mit«, sagte er weich. »Er ist nicht hier.«
    »Ja, ich weiß.«
    Er kam zu mir und legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. »Am Ende musste er das Boot in Brand stecken, um die Flamme am Leben zu halten. Ich sah ihn ins Wasser springen - er hatte keine andere Wahl. Entweder springen oder verbrennen, diese Entscheidung mussten wir alle treffen. Allerdings dachte ich, er könnte nicht schwimmen.«
    »Das konnte er auch nicht«, würgte ich hervor.
    »Bessere Schwimmer als er sind gestern ertrunken. Das Feuer und der Sturm waren zu viel für sie... und für ihn.«
    Ich sah ihn an. »Bartolomeo?«
    »Er lebt. Aber viele andere arme Seelen sind umgekommen - hier und in den Bergen. Doch Genua hat den Kampf gewonnen.«
    Die Formulierung entlockte mir ein bitteres Lächeln, denn ich hatte in der gestrigen Nacht alles verloren, woran mir je etwas gelegen hatte. Heiße Tränen rannen aus meinen Augen und an meiner Nase hinunter, aber mir fehlte die Kraft, eine Hand zu heben und sie fortzuwischen. Ich blickte auf das Meer hinaus; konzentrierte mich auf die Stelle, wo ich Bruder Guido zuletzt gesehen hatte. »Hat er noch irgendetwas gesagt?«
    »Ja. Er sagte: >Der Herr wird die Spreu mit unlöschbarem Feuer verbrennen.< Er hat es förmlich geschrien. Dann ist er gesprungen.«
    Ich nickte; unfähig, einen Ton hervorzubringen. Vermutlich
hätte ich froh sein sollen, dass er noch einmal die Bibel zitiert hatte, bevor er seinem Schöpfer gegenübergetreten war.
    Aber es hätte mich mehr getröstet, wenn seine letzten Worte mir gegolten hätten.
    Signore Cristoforo nahm mich bei den Schultern. »Er hatviel mehr Menschen gerettet, als gestern umgekommen sind. Zahllose Seelen. Er hat meine Stadt vor dem Untergang bewahrt. Ich glaube, er muss ein sehr guter Mann gewesen sein.«
    »Das war er«, flüsterte ich. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich sank, von einer Welle von Schmerz übermannt, auf dem Kiesstrand zusammen.
    Er kauerte sich neben mich und sah gleichfalls über das Meer hinweg. Verkohlte Schiffsrümpfe ragten wie ein geisterhafter Winterwald aus dem Wasser. Bald würden sie sinken, ihre Masten und Banner würden als Letztes von den Fluten verschlungen werden. Ich konnte den Anblick kaum ertragen. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte Signore Cristoforo leise.
    Ich zuckte zusammen. »Ihr wollt fort?« Er war der einzige Freund, der mir geblieben war.
    »Ich war zu lange von all denen getrennt, die ich liebe. Wenn ich letzte Nacht eines gelernt habe, dann das: Es wird Zeit, dass ich meinen Sohn sehe.«
    »Diego?«
    Er lächelte. »Daran erinnert Ihr Euch?«
    Ich wandte mich wieder zum Meer; starrte über die zerstörte Flotte hinweg ins Leere. »Wovon wollt Ihr denn leben?«
    »Ich denke, nach dem Dienst, den ich ihm erwiesen habe, wird mir Doge Battista mein Schiff ersetzen. Und wenn er das nicht tut, ist es auch nicht weiter schlimm. Ich werde ein Bittgesuch an die Herrscher von Spanien richten.«
    »Dann nehmt dies hier... im Namen Venedigs.« Ich griff unter meine nassen Röcke und reichte ihm den Geldbeutel mit den fünfzig Dukaten, die ich meiner Mutter gestohlen hatte. Seine Augen quollen fast aus den Höhlen, als er das Gold auf
blitzen sah und das Klirren der Münzen hörte. »Braucht Ihr es denn nicht selbst?«
    Ich schüttelte den Kopf. Geld bedeutete mir nichts mehr. »Wohin wollt Ihr?«
    »Erst nach Portugal, dann zu den Azoren, zu meinem Vater und Filipa. Und dem kleinen Diego.«
    Ich seufzte wehmütig; beneidete ihn um alles, was er hatte und ich nicht. »Ich denke, dass Ihr das Richtige tut. Geht zu Eurer Frau und Eurem Kind zurück. Liebe und Familie sind das Einzige im Leben, was wirklich zählt.« Ich hatte beides in einer
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