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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings
Autoren: Marina Fiorato
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Eine meiner Hände schoss vor. Ohne an die Ansteckungsgefahr zu denken, stieß ich sie unter die Bandagen, traf auf eine klaffende Lücke und riss rohe Fleischfetzen aus dem Rest seines Gesichts. Das verschaffte mir eine kleine Atempause; er ließ mich mit einem grässlichen Gurgellaut los. Ich fiel zu Boden, schlug mit dem Kopf hart gegen die Laterne und versuchte, zur Tür zu kriechen, doch da war er schon wieder bei mir angelangt, hob mich so mühelos hoch wie eine Feder und schmetterte mich rücklings gegen das heiße Glas. Eine kräftige Hand schloss sich erneut um meinen Hals, und diesmal gelang es ihm, das Messer zu zücken und damit zum tödlichen Stoß auszuholen.
    Mein letzter Moment auf dieser Welt schien kein Ende nehmen zu wollen. Bilder flammten vor mir auf, die Zeit drehte sich rückwärts wie ein Rad. Ich sah alle Ereignisse von meiner Geburt bis zum Hier und Jetzt vor mir - ich war ein Säugling in einer Flasche, ein Mädchen in einem Nonnenkloster, eine Hure, eine Edelfrau. Dann zogen Bilder von Bruder Guido an mir vorbei; ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung, unsere gemeinsamen Erlebnisse und an all die Male, da er mich berührt hatte. Schließlich war ich wieder in Florenz, an jenem heißen Tag, bevor ich Botticelli getroffen und alles begonnen hatte.
    Die Hand meines Mörders schloss sich fester um meine Kehle, die Laterne brannte sich in meinen Rücken, und ich schloss die Augen; blendete die Gegenwart aus. Ich wollte in Florenz sterben, mit Bruder Guido an meiner Seite. Mir fiel ein, was er mit als Erstes zu mir gesagt hatte - Luciana Vetra, das Licht im Glas, lass das Licht erstrahlen, lass das Licht erstrahlen... Ich war ein Säugling in einer Flasche, lass das Licht heraus, lass es heraus...

    Unter Aufbietung meiner letzten Kraft schlug ich nach den Kristallen der Laterne, dann stürzten mein Angreifer und ich rücklings in die Flamme. Als würden wir einen gespenstischen Tanz vollführen, riss ich den Aussätzigen herum und schob ihn unter mich, sodass das brennende Öl uns beide durchtränkte. Aber das Feuer im Glas beschützte mich; mein regennasser Umhang und mein Haar gerieten nicht in Brand, doch Cyriax Melanchthon stand sofort lichterloh in Flammen. Wie eine menschliche Fackel rannte er in dem kleinen Raum umher, wand sich in einer unnatürlich stillen Todesqual, während ich das grässliche Schauspiel angewidert und fassungslos verfolgte. Das Öl hatte auch den Fußboden in Brand gesetzt, und ich beeilte mich, die Flammen mit meinem Umhang zu löschen. Endlich brach der Aussätzige zusammen, seine übermenschlichen Kräfte waren aufgezehrt, seine silbernen Augen stumpf und tot. Das Feuer hatte seine Gesichtsbandagen verzehrt, aber ich vermochte das, was darunter zum Vorschein gekommen war, nicht anzusehen. Wider Willen empfand ich Mitleid mit ihm. Wenn Gott mich mit einer solchen Krankheit gestraft hätte, wäre ich vielleicht auch zu dem geworden, was er gewesen war.
    Nun fast in völlige Dunkelheit getaucht und allein mit drei Leichen machte ich mich daran, die letzten Flammen zu löschen, dabei fragte ich mich die ganze Zeit, wie es Bruder Guido auf den westlichen Klippen ergehen mochte. Ich spähte aus dem nach Westen hinausgehenden Fenster, konnte aber im strömenden Regen kein Licht auf den Felsen entdecken. Gerade als ich stumm darum betete, ihn noch ein einziges Mal sehen zu dürfen, antwortete Gott mir, und ich hörte Bruder Guidos Stimme unter mir.
    »Luciana! Luciana!«
    »Hier!«, rief ich heiser. Tiefe Freude durchströmte mich.
    Da stand er, direkt unter mir, und winkte mir zu. Zum Schutz vor dem Regen hatte er sich ein kleines Boot umgedreht über den Kopf gestülpt. Er sah aus wie eine Schnecke in ihrem Häuschen.

    »Luciana, ist die Laterne aus?«
    »Fast - ich komme gleich runter. Ich muss nur noch die letzten Flammen löschen.« Von Glück erfüllt, drehte ich mich um, um meine Aufgabe zu vollenden.
    »Nein!«, brüllte er so verzweifelt, dass ich augenblicklich innehielt.
    »Hör mir jetzt gut zu!«, fuhr er dann eindringlich fort. »Nimm den Rotogravidas und tauche ihn in das Öl. Dann steck ihn in Brand und wirf ihn aus dem Fenster. Jetzt sofort!«
    »Was...? Warum...?«
    »Tu es einfach.« Seine Stimme klang so drängend, dass ich ihm keine weiteren Fragen stellte. Ich zog die hölzerne Karte aus meinem Ärmel, rollte sie in einer Ölpfütze am Boden herum, hielt sie an die letzte winzige Flamme im Herzen der Laterne und betete inbrünstig, sie möge
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