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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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fast ist sie ein wenig stolz auf sie – sie waren im Lauf der Jahre immer so geschickt. Was ihren übrigen Körper anbelangt, so bemüht sie sich gar nicht erst, ihn noch zu überprüfen, denn mit dem Spiegel hat sie sich schon vor langer Zeit zerstritten. Er scheint sie mit keinerlei nützlichen Informationen mehr zu versorgen – nicht den geringsten.
    Aber ihre Hände haben ihr gute Dienste erwiesen, die Hände, die jetzt langsam den Löffel eintauchen, sodass der Kaffee durch die Zuckerkruste sich selbst nachjagt. Sie haben genäht und aufgetrennt. Sie haben ihre Insektenarbeit verrichtet und, wie eine Ameise es vermöchte, die Oberfläche der Erde verändert.
    Und wie sie so die klebrige Spitze des Löffels ablutscht, steht wieder Charlie vor ihr, beugt sich an der Rennbahn von Fairyhouse über eine Papiertüte und sagt: »Oh, labt mich mit Äpfeln.« Das war vor einem Menschenalter.
    Eine sehr protestantische Aussage, denkt sie plötzlich – einfach so das Alte Testament zu zitieren. Und zum tausendsten Mal fragt sie sich, ob ihr Ehemann überhaupt der Mann war, der zu sein er behauptete.
    Falls Ada in diesem Leben je zu einer Erkenntnis gelangt ist, dann zu einer kleinen. Die Menschen, dachte sie immer, ändern sich nicht, sie werden lediglich geoffenbart. Diese Maxime hat sie mit entschiedenster Genugtuung auf abtrünnige Politiker, untreue Ehegatten und auf wilde Jungs angewandt, die sich am Ende als rechtschaffen entpuppten. Jetzt wendet sie sie auf das Gedächtnis Charlie Spillanes an und auf sein treues Herz, das ihr im Lauf der Jahre immer treuer wurde. Wenn die Menschen nur durch die Zeit geoffenbart wurden, dann war der Mann, der sich ihr in Charlie Spillane enthüllte, unendlich gut – einfach nur gut -, trotz all seiner Ausflüchte und Reuegefühle, trotz seines untrüglichen Blicks für junge Mädchen und den eigenen Vorteil, und was ihr Ehemann eigentlich gewesen war, leuchtete seit seinem Tod noch klarer vor ihr auf.
    Sein großes Rätsel: Herzensgüte.
    Ada drückt ihre Fingerkuppe in die letzten Krümel des Blätterteigs, doch dann führt sie sie nicht zum Mund. Sie reibt die Krümel ab, sodass sie zu Boden fallen. Sie vermisst ihren Ehemann und all die Männer, die sie einmal gekannt hat und die jetzt tot sind. Jeder von ihnen hat eine besondere Qualität hinterlassen: etwas Charakteristisches und schwer zu Definierendes. Wenn Ada überhaupt an etwas glaubt, dann an diese Fortdauer, die andere Leute wohl die Seele nennen.
    Doch Lambert Nugent besaß keine, zumindest keine, die sie ausmachen konnte. Nugent war die Sorte Mann, der vor einem aufloderte. Den Rest der Zeit war er kaum vorhanden. Der feurige Jugendliche, der zitternde Mann, die weiße Flamme seines Alters – jeden von diesen hatte sie flüchtig zu sehen bekommen, der Rest war eine Düsternis aus kleinen Bemerkungen und Blicken in eine andere Richtung, aus Dingen, die zurückgenommen wurden, noch bevor sie enthüllt waren.
    Was hatte dieser alberne Mann nur zu verbergen?
    Als Nugent alterte, wurde sein Mund, der sich um ihre Kekse schloss, immer gieriger, und seine Zunge und sein Schlund, sein ganzer Geschmacksapparat waren das Zarteste und Lebhafteste an ihm. Manchmal hatte Ada den Eindruck, dass er die Kekse dringlicher wollte als die Miete, solch eine Naschkatze war er. Solch ein Kind war er. Vielleicht bestand sein Geheimnis ja darin, höchstens und für immer fünf Jahre alt zu sein. Oder zwei.
    Ach, Nolly May.
    Irgendeine Mutter hat allerhand auf dem Kerbholz gehabt, dachte sie. Gott hab ihn selig (falls Er ihn finden kann).
    Bevor ihre Vanilleschnitte ganz zerkaut und verschwunden ist, nimmt sie einen Schluck Kaffee, und plötzlich ist sie verärgert. Ada hasst es, Dinge in ihrem Mund zu vermengen. Sie hasst es überhaupt, Dinge zu vermengen. Mehr und mehr sieht es auch in ihrem Leben so aus, sie schnüffelt an den Kleidern in der alten Kommode und wäscht sie noch einmal durch, zum allerletzten Mal. Mehr und mehr gibt sie die Geschirrtücher in eine andere Waschmaschinenladung als die Badetücher, oder sie stopft sie überhaupt nicht in die Waschmaschine, sondern kocht sie auf dem Herd.
    Sie steht auf und sammelt ihre Sachen ein, dabei muss sie an das Aneurysma denken, das Nugent am Ende hinweggerafft hat. Sie fragt sich, ob es wohl geschmerzt hat – da gibt es doch bestimmt keine schmerzempfindlichen Nerven. Aber natürlich ist das Gehirn auf gewisse Weise der Sitz der Schmerzen, insofern war es vielleicht das denkbar
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