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Ein Fall zu viel

Ein Fall zu viel

Titel: Ein Fall zu viel
Autoren: Irene Scharenberg
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1. Kapitel
    Ungeduldig starrte Erwin Lützow den Weg entlang, der zum Eingang des Parks führte. Von seinem Kumpel Gert Gerke fehlte noch jede Spur, obwohl die verabredete Uhrzeit längst verstrichen war.
    Missmutig wanderte sein Blick den Hochofen hinauf und wieder hinunter. Anschließend drehte er sich einmal um die eigene Achse. Weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. Dabei wimmelte es manchmal nur so von Besuchern im Landschaftspark Duisburg-Nord. Ein ungutes Gefühl begann sich in seinen Eingeweiden zu verbreiten. Erwin zog einen kleinen Flachmann aus der Innenseite seiner abgewetzten Jacke hervor und nahm einen kräftigen Schluck. Der Flachmann stammte aus seinen Tagen als Bergmann, ehe er damals zur August-Thyssen-Hütte gewechselt hatte. Er konnte nicht sehen, wie viel noch in der Flasche war, aber sie war leicht geworden, und er fühlte, dass der Vorrat an Schnaps sich fast dem Ende zuneigte. Wenn sein Kumpel nicht bald auftauchen würde und er weiter in der Kälte stehen müsste, würde der Rest sich auch durch seine Kehle gebrannt haben.
    Erwin Lützow schaute zum wiederholten Mal auf seine Armbanduhr. Weshalb konnte Gert nicht einmal pünktlich sein? Inzwischen war sein Kumpel zwanzig Minuten überfällig. Am besten versuchte er, ihn auf dem Handy zu erreichen. Die Rufnummer hatte er zum Glück gespeichert. Ein knirschendes Geräusch drang an seine Ohren. Ruckartig riss er den Kopf zur Seite. Sein Atem beschleunigte sich. Eine Weile starrte er in die Dämmerung. Wahrscheinlich nur ein Tier, überlegte er. Trotzdem war er besser vorsichtig. Während Erwin wartete, dass Gert sich meldete, drehte er sich mit kontrollierendem Blick einmal um die eigene Achse.
    »Scheiß Dünnbrettbohrer, geh endlich ran«, schimpfte er so leise, als hätte er Angst, jemand könnte ihn belauschen. Als die Mailbox ansprang, brach Erwin die Verbindung ab. Fahrig verstaute er das Handy wieder in seiner Jacke.
    Mit einem Mal fühlte sich seine Kehle an wie zugeschnürt. Würde sein alter Kumpel mit denen …? Nein, das konnte nicht sein. Immerhin blickten er und Gert auf bald dreißig gemeinsame Arbeitsjahre zurück. Das verband doch mehr als manche Ehe, oder etwa nicht? Erwin Lützow wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. Sein Freund würde ihn nicht verraten. Keiner außer ihnen beiden wusste von diesem Treffen. Okay, dieser Blödmann war oft unpünktlich, ständig in Geldnot und vielleicht etwas labil, aber ganz bestimmt kein Verräter.
    Erwin zog ein frisch gebügeltes Herrentaschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit über die Stirn. Anschließend sah er sich erneut nach allen Seiten um. Noch immer konnte er keinen Menschen entdecken.
    Plötzlich hatte er das Gefühl, sein Hals zöge sich wieder enger zusammen. Er war sicher, wenn er jetzt etwas sagen wollte, käme nur ein leises Krächzen heraus.
    Was sollte er nur tun? Einfach zum Wagen zurücklaufen oder weiter abwarten? Auf keinen Fall jedoch durfte er an dieser ungeschützten Stelle ausharren und sich zur Zielscheibe machen. Er dachte kurz nach, dann hatte er sich entschieden. Wenn Gert länger auf sich warten ließ, würde er allein den Hochofen erklimmen.
    Erwin zog den Flachmann aus seiner Jacke und leerte den Inhalt in einem Zug. Während der Alkohol durch seine Kehle rann, schaute er sich erneut nach allen Seiten um. Der Sprit hatte ihn kaum in eine bessere Stimmung versetzt, ihn nicht einmal beruhigt.
    Ein gehetzter Blick in die Runde, dann lief er in Richtung Hochofen V. Schnell hatte er die eisernen Treppenstufen erreicht, die zu der Aussichtsplattform in siebzig Metern Höhe hinaufführten. Erwin zögerte. Sollte er wirklich ohne Gert hochsteigen? Automatisch drängte sich ihm die nächste Frage auf. War er auf dem Gelände tatsächlich allein? Oder hatte sein Kumpel ihn … Nein, diesen Verdacht wollte er auf keinen Fall zu Ende denken. Erwin versuchte zu lachen, brachte aber nur einen krächzenden Laut heraus. Das war doch alles lächerlich. Er war kein Schisser, verdammt! Deshalb würde er jetzt diese Stufen hinauflaufen wie geplant, auch ohne seinen Freund.
    Entschlossen zog er eine Taschenlampe aus seiner linken Hosentasche, knipste sie an und setzte sich in Bewegung. Der Aufstieg fiel ihm schwer. Sein Alter, die nicht mehr gesunden Knochen und der Alkohol forderten ihren Tribut, aber er biss die Zähne zusammen.
    Der Lichtkegel wanderte die Treppe hinauf. Erwin erschrak. Panisch suchte er den Knopf zum Ausschalten. Er
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