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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Flughafen fuhr, fühlte ich mich sehr ausgeglichen. Zurechnungsfähig und entschlossen. Ich hatte die Vorstellung, Rowan zu besuchen oder ein letztes Mal die Strandpromenade von Brighton entlangzuspazieren. Doch kaum hatten die Räder des Flugzeugs aufgesetzt, wusste ich, weswegen ich hierhergekommen war: um zu schlafen. Ich brauchte Schlaf. So folgte ich einfach dem Schild »Hotel«, und wie so oft führte es mich zu einem harten Bett, einer vollen Minibar und einer ausgeleierten TV-Fernbedienung.
    Und ich schlafe.
    Völlig angekleidet wache ich auf, ziehe mich aus und schlüpfe zwischen die kühlen, straffen Laken.
    »Ich hab versucht, dich zu fangen«, sagt der Mann in meinem Traum. »Aber du warst im falschen Jahr.« Es ist Michael Weiss. Er ist durch die Jahrzehnte geschwommen, um mich zu holen, durch ganze Zeitschichten hat er sich gekämpft. Und als wir einander gegenüberstehen, frage ich: »Wie geht es dir, Michael?«, und er antwortet: »Gut. Mir geht es gut.«
    Wieder wache ich auf und weiß nicht zu sagen, ob das Licht draußen Morgenlicht oder Nachmittagslicht ist. Mit dem Daumen steche ich auf die schwammartigen Knöpfe der Fernbedienung ein, um mir von den Nachrichten die Zeit sagen zu lassen. Es ist halb sieben abends. Ich habe acht Stunden geschlafen. Gerade will ich mich wieder umdrehen, um weiterzuschlafen, da greife ich in panischer Angst zu meinem Handy, um die Mädchen anzurufen.
    Tom nimmt ab.
    »Liebling. Hallo. Wo bist du?« In sehr ruhigem und gleichmäßigem Ton.
    »Gibst du mir Rebecca?«, sage ich, und in der Pause, die daraufhin folgt, merke ich, dass es durchaus in seiner Macht steht, Nein zu sagen.
    »Hallo.« Sie klingt so viel jünger, als sie ist.
    »Hallo, Schätzchen.«
    »Wo bist du?«
    »Alles in Ordnung bei euch?«, frage ich. »Ich komme bald nach Hause.«
    »Okay. Okay.« Ziemlich vergnügt. Das liegt nicht in ihrem Einflussbereich. Ganz zu Recht.
    »Gib mir doch mal deine Schwester.«
    Emily atmet durch die Leitung.
    »Wie geht’s?«, frage ich. »Wie geht’s?«
    Noch mehr Atmen. Eine verzwickte Angelegenheit für Emily, das Telefon. (»Du bist nicht hier«, sagte sie einmal zu mir. » Ich bin hier.«) Diesmal hat sie ausklamüsert, wozu das verdammte Ding gut ist. Aber immer noch nicht ganz.
    »Mammy?«
    »Ja, mein Schatz?«
    »Ich schenke dir ein Wort«, sagt sie. »Und das Wort heißt ›Liebe‹.«
    »Ja«, sage ich schließlich. »Ja. Das ist ein schönes Wort zum Verschenken.«
    »Wiedersehen!« Und um mir die Mühe zu ersparen, knallt sie den Hörer auf die Gabel.
    Emily. Ich weiß nicht, ob das Kind hochintelligent oder absonderlich ist – irgendwie kriegt sie die Dinge nicht auf die Reihe, aber wenn sie es tut, bringt sie Erstaunliches zustande. Deshalb mache ich mir um sie auch keine Sorgen, denke ich, bevor mir aufgeht, dass ich mich auf dem Flughafen von Gatwick befinde. Ich bin vor meiner Tochter davongerannt. Ich habe sie zurückgelassen.
    Dabei geht das gar nicht, die Mädchen zurücklassen, sie sind stets bei mir. Ich lege mich wieder unter die Bettdecke und taste nach Rebeccas feinem Haar, das sich fächerförmig auf dem Kopfkissen ausbreitet. Manchmal rollt sie sich dort neben mir zusammen, dann beobachtet uns der Katzenblick ihrer Schwester von einer anderen Stelle im Zimmer. Sie sind so schön. Was immer ich betaste, ich kann ihr seidiges Haar heraufbeschwören und denke, was für ein großartiger und leiser Sieg es ist, sie in der Welt zu haben.
    Rebecca Mary und Emily Rose. Im Schlaf bleiben sie jetzt bei mir. Sie sind ganz geduldig. Für eine Weile wenden sie sich ab und lassen mich ruhen.
     
    Ich wache wieder auf und dusche. Ziehe mir den neuen Slip an und werfe den alten in den Abfalleimer. Lege dieses andere Leben ab und lasse das Hotel hinter mir.
    Draußen bin ich überrascht, dass ich mich noch immer auf einem Flughafen befinde und dass der Traum andauert. Nun bin ich schon so lange gereist und bin doch immer noch hier.
    Palma
    Barcelona
    Mombasa
    Split
    Von der Abflugtafel winken mir all die Reiseziele zu, Orte, an denen ich noch nie gewesen bin, wie Straßenprostituierte, eine Projektionsfläche für mein Verlangen.
    Fuerteventura
    Vilnius
    Pula
    Cork
    Was für eine Anschaffe! Mit Recht ignorieren die Menschen um mich herum diese Orte und gehen stattdessen shoppen. Ich folge ihnen in dem gläsernen Fahrstuhl ins nächste Geschoss und suche im Accessorize nach einem kleinen Mitbringsel für die Mädchen, nach etwas Glitzerndem oder
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