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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Geblümtem. Ich betrachte die Leute, die an der Kasse anstehen, und frage mich, ob sie nach Hause fliegen oder weit fort von den Menschen, die sie lieben. Andere Reisen gibt es nicht. Und ich denke, dass wir sonderbare Flüchtlinge abgeben, Flüchtlinge, die vor unserem eigen Fleisch und Blut davonrennen oder zu unserem eigen Fleisch und Blut hinstreben, dass wir hin und her pulsieren entlang gespenstischer Adern, die die Welt mit einem Netz von Blut überziehen. Genau daran muss ich denken, als ich mit meinen zwei Paar Flipflops, die am Zehensteg aus Plastik mit einer seidenen Orchidee für Emily und einer Pfingstrose für Rebecca versehen sind, in der Filiale von Accessorize in Gatwick Village Schlange stehe. Ich muss daran denken, dass die Welt eingewickelt ist mit Blut, so wie ein Knäuel Bindfaden mit diesem selbst eingewickelt ist. Und wenn ich der Blutlinie folge, werde ich herausfinden, was ich wissen will.
    Zu ihnen hin oder von ihnen fort.
    Die Versuchung, wieder ins Hotel zurückzugehen, ist sehr groß, aber ich zwinge mich dazu, eine Weile in der Halle des Abflugbereichs zu sitzen, denn ich denke, dass ich je nach Abfertigungszone ein beliebiges Reiseziel auswählen könnte, und doch weiß ich, dass ich nirgendwo anders hinfliegen werde als nach Hause.
    Nizza
    Djerba
    Edinburgh
    Dublin
    Wo liegt Djerba eigentlich?
    Und diesmal wird die Maschine richtig landen. Ich habe das Gefühl, dass sie, als ich das letzte Mal nach Dublin flog, nicht richtig gelandet ist. Kitty neben mir weinte, und Liam saß da und klagte mich an, und der Ort, wo wir aufsetzten, war nicht der Ort, der mir vertraut war. Vielleicht war nichts davon wirklich. Ich komme mir vor, als hätte ich die vergangenen fünf Monate in den Lüften verbracht.
    Plötzlich rufe ich Kitty an.
    »Geht’s dir gut?«, frage ich.
    »Wie bitte?«
    »Geht’s dir gut?« Und eine Sekunde lange glaube ich, dass sie weiß, wovon ich rede.
    »Ja, mir geht’s gut. Und dir?«
    »Ja, gut. Mir geht’s auch gut.«
    Und dann reden wir von anderen Dingen.
    Ich weiß, was ich tun muss – obwohl es für die Wahrheit längst zu spät ist, werde ich die Wahrheit sagen. Ich werde mir Ernest vorknöpfen und ihm erzählen, was Liam in Broadstone widerfahren ist, und ich werde ihn bitten, diese uralte Neuigkeit dem Rest der Familie beizubringen (aber: Sag’s bloß nicht Mammy! ). Denn ich selbst bin dazu nicht in der Lage, ich habe nicht die Worte dafür. Ich könnte Beas Missbilligung oder Itas dumpfigen Kummer einfach nicht verkraften, und auch nicht Ivor, der nur eine forsche Bemerkung machen würde: »Wie kommt es, dass ihr zwei allen Spaß hattet?« Gott, ich hasse meine Familie, diese Menschen, die zu lieben ich mir nie ausgesucht habe und die ich dennoch liebe.
    Und was für ein krankhafter Versuch, vor ihnen allen davonzurennen. Gatwick, dieser scheußliche Flughafen. Ich sollte in Barcelona sein und nach einem Zeichen Ausschau halten. Ich sollte in den Straßen von Paris umherlaufen und darauf warten, dass ich gefunden werde, von einem Mann, der auf mich zugeht und sagt: »Ich habe dich schon so lange erwartet.« Und später, Wochen danach, werde ich im Jardin du Luxembourg Kindern beim Spielen zusehen und mit dem Schrei aufspringen: »Nein! Nein! Das kann nicht sein.«
    Aber ich will kein anderes Schicksal als das, welches mich hierhergeführt hat. Ich will kein anderes Leben. Ich will lediglich imstande sein, es zu leben, das ist alles. Ich will morgens aufwachen und nachts einschlafen. Ich will wieder mit meinem Mann schlafen. Denn jedes Mal, wenn er mich zugrunde richten wollte, gab es Liebe, die mich wieder aufrichtete – die uns beide wieder aufrichtete. Wenn ich mich doch an diese Male erinnern könnte! Wenn ich mich an jedes einzelne Mal erinnern könnte, so wie man sich an verschiedene Orte erinnert, die man besichtigt hat – einige davon so verblüffend, exotisch oder verwirrend oder friedlich. Wenn ich sagen könnte: So war es damals, als Rebecca in mein Leben trat oder als Emily sich ankündigte. Oder einmal, ich weiß es noch, eines Nachmittags, als er im Licht der weißen Gardinen am Ende des Bettes saß und wie jemand aussah, den ich von Anbeginn kannte, wann immer dieser Anbeginn gewesen sein mochte.
    Ich stehe in der Ticketschlange, und plötzlich muss ich die Augen schließen. Ich stehe da, die Lider fest zusammengedrückt, den Reisepass mit der Hand umkrampft und die Hand gegen das schlingernde, leere Gefühl im Bauch gepresst – die
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