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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen
Autoren: Anne Enright
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Bruder. Er ist ganz wie früher, und das verwirrt mich. Jetzt, da ich weiß, wer er ist, kann ich das Bild eines Mannes mittleren Alters nicht länger zurückzaubern.
    »Ach, Willow«, sage ich wie ein närrisches Schulmädchen. Die Liebe ist eine Sache, aber es gibt so viele Menschen in der Welt, die wir mögen, dass wir den Baum vor lauter Wald nicht sehen.
    Eine schwindelerregende Angelegenheit, einen Toten zu beerdigen.
     
    Ich warte, bis wir im Hotel sind, und selbst dann widerstrebt es mir, Überbringerin der Neuigkeit zu sein. Ich kann sie nicht an Bea weiterreichen, die Eigentümerin aller Hegartys. Ich kann sie nicht Ivors Ironie aussetzen oder Itas Intelligenz oder Mossies wunderbarem Managementgeschick . Ich brauche ein Kind, das diese Aufgabe übernimmt, oder doch ein erwachsenes Kind.
    »Komm mal her, Jem«, sage ich zu meinem kleinen Bruder, dem jüngsten und meistgeliebten. Und sehe ihm dabei zu, wie er die Runde macht, Mammy kommt zuletzt dran. Bea versucht, sie zum Hinsetzen zu bewegen, aber sie will sich nicht setzen. Mammy steht auf, öffnet den obersten Knopf ihrer Bluse und zieht mit wildem Blick den Mantel aus. Dabei fuchtelt sie mit dem Arm, der sich im Ärmel verfangen hat. Als Bea ihr den Mantel endlich vom Arm reißt, entdeckt sie Sarah und das Kind, und sie eilt, ja rennt auf die beiden zu, um dem Kind die Hände auf die Schultern zu legen und sie über sein liebliches Gesicht gleiten zu lassen. Mit schrecklich zusammengekniffenen Augen schaut sie auf Sarah, und diese tritt sehr höflich vor, um ihr die Hand zu schütteln. Da wendet Mammy sich ab, als sei nichts geschehen.
    Die Wirkung, die der Junge auf die versammelten Hegartys ausübt, lässt sich nur schwer beschreiben.
    »Rowan?«, sagen sie. » Rowan .«
    Es ist, als hätten wir noch nie zuvor ein Kind gesehen. Er hat die Augen der Hegartys, sagen wir – entzückt, als wären sie nicht ein Fluch -, und wir schauen nach, um uns zu vergewissern, was für ein Mensch diesmal aus ihnen herausschaut. Es ist geradezu unheimlich. Jeder will ihn anfassen. Sie können gar nicht anders – sie strecken die Hände aus, und er scheut, ja, zuckt sogar vor ihnen zurück. Derjenige, bei dem er Zuflucht sucht, ist ausgerechnet Mossie. Dieser setzt ihn auf sein eines langes Bein, rüttelt ihn – hoppe, hoppe, Reiter – gehörig durch und droht, ihn abzuwerfen. Mossie, der für Liam ein dunkler Spiegel war, liebt den Jungen, und der Junge liebt ihn. Mossies eigene Kinder scharen sich um die beiden, und zum ersten Mal sehe ich, wie glücklich sie sind – deswegen sind sie auch so wohlerzogen, mit ihrer sanften Mutter und ihrem Vater, der streng, aber gerecht ist. Sie sind zufrieden.
    Nach so vielen Jahren ist es erstaunlich, am eigenen Bruder dergleichen beobachten zu können – fast noch erstaunlicher als die Tatsache, dass Liam einen Sohn hat. Vielleicht liegt es daran, dass dieser Zufall – Liam hat einen Sohn – zu fantastisch ist, als dass ich mitten im Empfangssaal eines Hotels in einer Dubliner Vorstadt, in dem sich zweihundert Personen, die ich vage kenne, zu Suppe oder Melone, gefolgt von Lachs oder Rinderbraten, niederlassen, darüber nachsinnen könnte.
    Wir essen alles auf. Einschließlich der gedeckten Apfeltorte mit Eiscreme. Wir sparen an nichts. Wir schmieren reichlich Butter auf die zu weichen Brötchen und bitten um eine zweite Tasse Tee. Ich widme mich der Mahlzeit mit übermäßigem Interesse. Schaue zwar ab und an von meinem Teller zu Rowan auf, doch dann senke ich den Blick wieder, um eine Kartoffelkrokette aufzuspießen.
    Es gibt noch andere Dinge, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wann immer ich die Kraft aufbringe, die Augen von dem Jungen abzuwenden. Ivor, der sich mehrere Augenblicke lang, zu lang, mit Liams Freund Willow unterhält. Ein Blick, den sie mit keinem Geringeren als dem Priester wechseln, der seinen Mantel nimmt und sich noch einmal umschaut, bevor er zur Tür hinausschreitet. Ernest entgeht auch dieser letzte Blick nicht, und er verbucht ihn. Und da sitzt Ita im rechten Winkel zu Ernest, umklammert mit beiden Händen seinen Unterarm und redet auf eine Seite seines Gesichts ein, das jenen gequälten, gekränkten Ausdruck annimmt, der mir von der Beichte her vertraut ist. Jemand hat Kitty ein Mikrofon in die Hand gedrückt, und nun steht sie auf, während Mossie mit seinem Messer an ein Glas klopft. Dann legt sie das Mikrofon auf den Tisch und hebt den Kopf, um, mit äußerster Süße, Liams
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